von Sandro Danilo Spadini
Ein sehr hohes Risiko für Krämpfe, Angstzustände, Entzugserscheinungen und Depressionen: Das wären die Folgen, wenn sie ihre Medikamente jetzt absetzen würde, sagt man ihr klipp und
klar. Doch Lynsey (Jennifer Lawrence) will genau das: weg von den Pillen, und zwar so schnell wie möglich. Denn sie will am liebsten schon morgen zurück, zurück in den Krieg, zurück nach
Afghanistan. Und vor allem: weg von hier, weg von New Orleans, ihrer Heimat, in die sie zurückverfrachtet wurde, nachdem sie im Einsatz bei einer Explosion eine schwere Hirnverletzung
davongetragen hatte. Und wo sie schon vor dem Krieg traumatisiert worden ist, wie sie später sagen wird, und Dinge durchlitten hat, die sie noch immer zu verwinden sucht. Was das jedoch war,
darüber mag sich die schon seit je so ernste und pflichtbewusste Mittzwanzigerin zunächst nicht weiter auslassen. Etwas mit der Familie, das scheint sicher. Etwas mit dem abwesenden Bruder
(Russell Harvard) und der unzuverlässigen Mutter (Linda Emond). Schlimm und übel genug jedenfalls, dass sie schon wieder türmen will, kaum ist sie angekommen. Und das, obwohl es doch eigentlich
gar nicht so schlecht läuft hier. Einen Job, ein halbwegs gutes Auskommen mit der Mutter und einen Kumpel hat sie gefunden: Klar, sie arbeitet als Poolreinigerin; das mag nicht allzu prickelnd
klingen, aber hey, sie liebt nun mal das Wasser. Und die Mama hat zwar den Kopf noch immer meist in den Wolken, aber sie sagt zwischendurch auch mal was Nettes: «Du schaust aus wie du», etwa. Zum
Gamechanger könnte, müsste fast sogar indes dieser James (Brian Tyree Henry) werden, den sie kürzlich in der Autowerkstatt kennen gelernt hat und mit dem sie nun so gern abhängt: ein frivoler,
nur vordergründig lustiger Vogel, der wie Lynsey seine körperlichen Versehrungen nunmehr unter Kontrolle hat, seine seelischen aber mitnichten. Ein Bruder im Geiste also. Und obwohl definitiv
kein amouröses Ziel, da sie ja auf Frauen steht, ein Grund, eben nicht zu fliehen, nicht wegzulaufen, ins Reine zu kommen, Frieden zu schliessen. Und neu anzufangen.
Keine Zirkusnummern
«Causeway» ist einer dieser von Grund auf
sympathischen Indie-Filme, in denen jemand wie Jennifer Lawrence nicht fürs Geld spielt, sondern um Ruhm und Ehre. Ob sie den Ruhm auch in Form von etwas Handfestem ausbezahlt bekommt, wird sich
erst nach Start der Award-Saison weisen. Aber Ehre gebührt ihr schon jetzt, und das in nicht geringem Masse und beileibe nicht nur dafür, dass sie als profilierteste Schauspielerin ihrer
Generation, die schon jetzt mit fast dem ganzen Adel Hollywoods gedreht hat, sich nicht zu schade ist, auch mal mit (noch) nicht so klangvollen Namen zu arbeiten. Dass die 32-Jährige eine solch
leuchtende Ausnahmeerscheinung ist, liegt nicht zuletzt daran, dass sie es schafft, scheinbar spielerisch Widersprüche zu vereinen, stets gleichzeitig resolut und fragil, tough und verletzlich zu
wirken. Hier nun treibt sie dieses Spiel auf die Spitze, bringt es mit einer stupenden Subtilität und einem phänomenalen Nuancenreichtum zur Perfektion. Das ist kein Spektakel, das sie mit der
Tragik ihrer Figur veranstaltet; da gibt es keine Kabinettstückchen, die ihr die Würde abgraben, keine selbstgefälligen Zirkusnummern. Sie spielt das einfach so, wie wenn sie das leben würde –
nicht auf der Leinwand freilich, sondern in der Realität, der rauen Realität, der es egal ist, wie schön jemand weinen kann, wie herzzerreissend jemand schluchzen kann. Das ist von einer
Natürlichkeit, von einer Ehrlichkeit, die einen gefangen nimmt, die einen bisweilen überwältigt, etwa wenn Lynsey abermals ins Leere starrt und dann doch redet, erzählt, was ihr drüben im Krieg
widerfahren ist, und mit zart zuckenden Mundwinkeln, leicht flackernden Augen, mild brüchiger Stimme erklärt, weshalb sie hier in New Orleans keinen Frieden findet. Und auch: wenn sie sich trotz
allem ein Lächeln abringt, Mut fasst.
Kleine Freuden und etwas Schönheit
Das ist also Lawrence’ Film, ihre Show; keine Frage, keine Diskussion. Das einsame Highlight ist sie aber keineswegs. Mit dem unverschämt vereinnahmenden «Atlanta»-Star Brian Tyree Henry hat sie
einen Partner, mit dem es auf Anhieb klappt, mit dem sie herrlich harmoniert. Und mit der Kinodebütantin Lila Neugebauer («Maid») eine Regisseurin, die etwas von den Menschen versteht und ihre
Figur nicht über Gebühr quälen mag. In dem ganzen Elend, in dem Lynsey gefangen ist, sucht Neugebauer nicht noch mehr Elend, nicht die Dunkelheit, sondern das Licht, die Menschlichkeit. So lässt
sie sie immer wieder auf Leute treffen, die es gut mir ihr meinen: die alte Pflegerin (Jayne Houdyshell), die sich Lynsey nach ihrer Rückkehr als Erste annimmt; der Arzt (Stephen McKinley
Henderson), der ernsthaft daran interessiert ist, wie es ihr geht; oder eben James. Und auch wenn die Sonne gerade nicht scheint und lange nicht geschienen hat und Lynsey überzeugt ist, dass sie
nie wieder scheinen wird: Es gibt auch in dieser verkorksten Situation Dinge, denen unverändert ein gewisser Zauber innewohnt – ein frisch gezapftes Bier, ein schön fettiger Burger, eine
unschuldig geschnorrte Zigarette, ein viel zu süsses Eis, die Abkühlung im Pool, das Plaudern über vermeintliche Nichtigkeiten oder, wir sind hier in New Orleans, die Musik. Kleine Freuden zwar.
Aber ein bisschen Aufmunterung. Ein Stück Leben. Und in diesem Geist überrascht Neugebauer denn auch mehr als einmal mit einer feinen, hübschen Einstellung, sucht und findet Schönheit in der
Tristesse. Quasi: Man nimmt sich, was man kriegen kann. Und so wie Lawrence das spielt, so setzt Neugebauer das in Szene. Sie überreizt ihr Blatt nicht, geht sparsam um mit Emotionen, verliert
nicht zu viele Worte – damit es dann, wenn es doch mal gesprächig wird, seine Wirkung erzielt. Gar alles in diesen nur knapp 90 Minuten mag nicht vollends zu fesseln; ein paar wenige Szenen
sind auch durchaus in die Länge gezogen: nicht gerade zäh, aber doch etwas langatmig und schwerfällig. Aber kein Problem: Dann konzentriert man sich derweil halt vollständig auf den Zauber von
Jennifer Lawrence. Das lohnt sich in jedem Fall.