Das Runde muss aufs Eckige

Der Fussball und das Kino pflegen seit je eine eher unterkühlte Beziehung. In den letzten rund anderthalb Jahrzehnten indes ist da ein wenig Feuer reingekommen. Eine kleine Auslegeordnung.

Netflix

Von Sandro Danilo Spadini

 

30 Jahre ist es nun her, dass der Fussball via Nick Hornbys ungebrochen kultisch verehrten Roman «Fever Pitch» in der (Pop-)Kultur angekommen ist. Doch nicht wenige, die damals eine diebische Genugtuung verspürt haben, dass in Hornbys Gefolge dann auch Grössen wie Javier Marías keinen Hehl mehr aus ihrer Liebe zum runden Leder machten und ihm gar den Weg in feuilletonistische Gefilde bahnten, hadern heute mit diesen Feingeistern, die sie riefen. Denn auch sie haben ihren Anteil daran, dass der Fussball von der Sub- zur Leitkultur emporsteig und in konsequenter Folge dessen der Kommerzialisierung spätkapitalistischer Ausprägung anheimfiel. Als fussballaffiner Cineast hat man derweil sogar doppeltes Recht zur Klage. Denn wiewohl im Zuge der Popularisierung unser aller Lieblingssports nunmehr auch vermehrt filmische Erzeugnisse dazu angeschwemmt werden, ist der grosse Wurf bis heute ausgeblieben. Recht eigentlich hat sich trotz des gerade in den letzten anderthalb Jahrzehnten geradezu sprunghaft gestiegenen Ausstosses an Filmen mit Fussballbezug kaum etwas verändert: Meisterhafte Spektakel, wie sie die Amerikaner für ihre Leibsportarten seit je immer wieder hervorbringen, sind noch immer keine gelungen, ja schlimmer noch: Sie werden gar nicht erst angestrebt. Das heisst freilich nicht, dass die Situation so deprimierend ist wie ein 0:0 im Novemberregen und König Fussball im Kino nach wie vor den Bettler gibt.

Von Ibra bis Yashin

Einen kleinen Boom erleben derzeit vor allem die Fussball-Biopics. Ein filmisches Denkmal ist dabei zwar nicht herausgekommen, und auch die Kritiken waren jeweils frostig bis lauwarm. Doch beim Publikum kamen diese Filme meist nicht gar so schlecht an, etwa «Trautmann» (2018) mit David Kross, «Pelé: Birth of a Legend» (2016) von den bei Fussballfans für ihre stupende Doku «The Two Escobars» (2010) wohlgelittenen Zimbalist-Brüdern oder – ersten Reaktionen aus Italien nach zu schliessen – auch «I Am Zlatan», die Adaption der auf David Lagercrantz’ Bestseller beruhenden Ibrahimovic-Biografie. Weniger euphorisch reagierte derweil das (vornehmlich russische) Publikum auf «Lev Yashin. The Goalee of My Dreams» (2019) und «Streltsov» (2020); und die von Netflix produzierte Baggio-Bio «Il divin codino» (2021) hatte zwar einen tauglichen Hauptdarsteller und einen ziemlich grandiosen Arrigo-Sacchi-Verkörperer, litt aber an der für eine Lebens- und Karriereschau allzu ambitionslosen Laufzeit von läppischen 90 Minuten. Überhaupt der Ehrgeiz: Der ist auch in diesem Segment nur schwach ausgeprägt und würde übertragen auf die Fussballwelt wohl nur haarscharf für ein Engagement in der Schweizer Super League reichen. Dann also vielleicht doch lieber «Diamantino» (2018), eine portugiesische Satire über einen einfältigen Superkicker, der eine frappierende Ähnlichkeit mit Cristiano Ronaldo aufweist. Die Tagline zum Film liest sich so: «Ein gefallener Fussball-Superstar gelobt, ein Flüchtlingskind zu adoptieren, während er unwissentlich zum naiven Kernstück in einem bizarren Plan wird, um Portugal wieder gross zu machen.» Die Kritik fand es jedenfalls recht lustig, CR7 wohl eher nicht ganz so sehr.

Eine Flut an Dokus

Regelrecht in den Fussball verbissen haben sich die Dokfilmer. Kein aktueller Superstar, der sein Leben nicht bereits filmisch verewigt hätte. Bei «Messi» (2014), nach einem Skript von Jorge Valdano, war mit Álex de la Iglesia sogar ein kinoerprobter Regisseur am Werk, bei «Ronaldo» (2015) immerhin die Produzenten der preisgekrönten Dokus über Ayrton Senna und Amy Winehouse. Neymar hat Netflix mit «Neymar: The Perfect Chaos» (2022) derweil gleich eine Miniserie spendiert, und auch mit «Pelé» (2021), «Anelka: Misunerstood» (2020), «Antoine Griezmann: The Making of a Legend» (2019) oder ganz aktuell «I Am Georgina» (2022), einer Serie über die Gattin von CR7, hat sich der Streamingdienst schon auf den Rasen, der die Welt bedeutet, gewagt. Getoppt wird diese Dokumentationswut noch von den Engländern. Nicht alles ist dabei freilich so aufwühlend wie «Gascoigne» (2015). Das meiste, was von der Insel kommt, ist schlichte Heldenverehrung. Und ein verblüffend grosser Teil davon beschäftigt sich mit Manchester United: «The Class of 92» (2013), «Busby» (2019), «Sir Alex Fergusson: Never Give In» (2021), «The United Way» (2021) oder auch «Rooney» (2022), eine vergleichsweise prominent vermarktete Produktion aus dem ohnehin recht fussballaffinen Haus Amazon. Von ganz anderem Kaliber ist da «Diego Maradona» (2019) von Star-Dokfilmer Asif Kapadia, der «Senna» und «Amy» halt nicht bloss produziert, sondern inszeniert hat. Sein vielschichtiges Werk, das die öffentliche Persona des Fussballers Maradona der privaten Person Diego gegenüberstellt, übertrumpft auch das exzentrische und ein gross bisschen egozentrische Spektakel «Maradona by Kusturica» (2008) um Längen.

Auf zu höheren Sphären

In die dürr besetzte Kategorie der «künstlerisch wertvollen» Fussball-Filme gehört fraglos auch «The Damned United» (2009) von Oscar-Preisträger Tom Hooper («The King’s Speech»), die von Peter Morgan («The Queen») adaptierte Verfilmung des Romans von David Peace über den legendären Nottingham-Trainer Brian Clough. Rein schon von den involvierten Namen her ist dies die wohl ambitiöseste Produktion in diesem Subgenre – schliesslich wirken auch vor der Kamera mit Michael Sheen, Timothy Spall oder Jim Broadbent gleich mehrere Granden des britischen Kinos. Im selben Jahr interessierte sich freilich auch kein Geringerer als Ken Loach, das sozialistische Gewissen von der Insel, für König Fussball oder besser gesagt für King Eric Cantona, den er in «Looking for Eric» (2009) als sich selbst auftreten liess, um einem verzagten Postboten Lebenshilfe zu geben: eine für Loach-Verhältnisse eher leichtfüssige Angelegenheit. Ungleich höher hinaus wollten da die Macher von «Tigers» (2020), die ihren Film über die Erfahrungen des Teenagertalents Martin Bengtsson Mitte der Nullerjahre bei Inter Mailand als offiziellen schwedischen Beitrag ins Rennen um den diesjährigen Auslands-Oscar schickten; dass ihnen dabei kein Erfolg beschieden war, ist angesichts der ungewöhnlich starken Konkurrenz sicher kein Beinbruch. Ein doppelter Kreuzbandriss samt Meniskusschaden war hingegen der FIFA-Propagandafilm «United Passions» (2014), der auf IMDb.com derzeit ein unterirdisches Rating von 2,1 (von 10) aufweist und das Kunststück fertiggebracht hat, auf der bis 100 reichenden Skala der Kritikerbewertungen aggregierenden Website Metacritic.com den Wert 1 zu erzielen. Und auch noch einen inoffiziellen Titel hat sich dieses Desaster verdient: Mit Gérard Depardieu als Jules Rimet, Sam Neill als Joao Havelange und – Achtung, jetzt kommt der Kicker – Tim Roth als Sepp Blatter ist das der vielleicht am groteskesten besetzte Film der Neuzeit.

Italienische Leckerbissen

Doch wenden wir uns noch einmal Erfreulicherem zu und wagen den Blick nach Italien. Gerade im Land des Calcio hat sich in den letzten Jahren einiges Erstaunliches getan in Sachen Fussballfilme. Neben dem Baggio-Biopic gab es da etwa «Il campione» (2019). Darin gerät ein junger Lokalmatador der AS Roma immer wieder ausser Kontrolle und schliesslich auf den Verkaufszettel seines entnervten Präsidenten, bis ihn ein Nachhilfelehrer in Person von Stefano Accorsi in die Spur bringt – eine vergnügliche Fabel klassischen Hollywood-Zuschnitts. Um den einzig wahren Capitano der Roma geht es derweil im verspielten und auch ein wenig verrückten Sechsteiler «Speravo de morì prima» (2021). Hier werden auf unerwartet humor- und fantasievolle Weise die letzten beiden zähen Saisons von Francesco Totti im Trikot der Giallorossi nacherzählt, inklusive köstlicher Auftritte von Weggefährten wie Luciano Spalletti, Marcello Lippi oder Antonio Cassano und witziger Cameos von Andrea Pirlo und Alessandro Del Piero. Und gar Italiens derzeit aufregendster und höchstdekorierter Regisseur ist ein dem Fussball Verfallener. Schon damals in seinem Debüt wagte sich Oscar-Gewinner Paolo Sorrentino aufs Rasenviereck: In «L’uomo in più» (2001) erzählte er nur leicht verklausuliert die Geschichte des traurigen, 1994 in den Freitod gegangenen Ex-AS-Roma-Captains Ago Di Bartolomeo. 20 Jahre später ist es dann persönlich: Im furiosen Oscar-nominierten Drama «È stata la mano di Dio» (2021) verarbeitet er seine Jugend im Napoli der Achtzigerjahre und schildert gewohnt gestenreich, wie ihm der Besuch eines Spiels im San Paolo buchstäblich das Leben rettete. Maradona hatte Sorrentino schon einige Jahre zuvor für das Drama «Youth – La giovinezza» (2015) casten wollen; er musste sich dann indes mit einem Double begnügen, das sich im Flimser Hotel Waldhaus in die Kur begibt.

Eine mächtige Kulisse

In Sorrentinos Filmen spielt der Fussball mithin nicht die Hauptrolle; er ist mehr Staffage oder Kulisse. Das filmische Geschehen bloss in einen Fussballkontext einzubetten, ist denn auch ein weiterer Trend, der seit einigen Jahren im Kino zu beobachten ist. Nicht immer muss das so abgenudelt sein wie in Gabriele Muccinos Flop «Playing for Keeps» (2012), wo der alte Kuschelrocker Gerard Butler einen einstigen schottischen Fussballstar gibt, der in den USA eine Kindermannschaft trainiert und ein paar Soccer-Moms flachlegt. Oder so debil wie der infame beidfüssige (!) Fallrückzieher von Scott Adkins (!) im Trikot des von Jason Statham (!) trainierten französischen (!) Nationalteams in «The Pink Panther» (2006). Bisweilen kann es bereits recht amüsant sein, wenn die Welt des runden Leders bloss referenziert wird: So konnten zwei prächtige Fussball-Gags (der eine obendrein auf Kosten von Stefan Effenberg) den deutschen «The Wolf of Wall Street»-Verschnitt «Betonrausch» (2020) zwar auch nicht retten, sie dürften ihm aber immerhin in gewissen Kreisen ein paar Sympathiepunkte eingebracht haben. Eine ungleich gewichtigere Rolle spielt der Fussball hingegen in «Stillwater» (2021) von Oscar-Preisträger Tom McCarthy. In diesem an den Fall Amanda Knox angelehnten Drama, das in Marseille spielt, erobert Matt Damon das Herz der kleinen Tochter seiner Vermieterin, indem er ihr ein OM-Trikot schenkt und sie schliesslich ins Vélodrome und zu ihrem Helden Dimitri Payet ausführt. Wenn er dann dort in den Rängen den Mann ausfindig macht, den er seit Monaten sucht, kommen selige Erinnerungen an die wahrscheinlich beste Fussballszene der Kinogeschichte auf: an jene fulminanten fünf Minuten im Oscar-prämierten argentinischen Krimi «El secreto de sus ojos» (2009), wo die Polizisten einen Tatverdächtigen von der Tribüne über die Katakomben bis auf den Rasen des Huracán-Stadions verfolgen. Das war nun wahrlich eine spektakuläre Vermählung von Film und Fussball. Doch eben: Es waren nur fünf Minuten, und es ist schon 13 Jahre her.