Einfach nur Quatsch – ganz ohne Sauce

Stars verheizt, Budget verbraten: Der Actionthriller «The Gray Man» ist so einfalls- wie seelenlos und der nächste krachend gescheiterte Versuch von Netflix, eine Blockbuster-Franchise zu etablieren.

Ryan Gosling im Film The Gray Man

Netflix

von Sandro Danilo Spadini

Das Kino sei tot, wird seit geraumer Zeit geraunt. Klingt alarmistisch bis kulturpessimistisch. Ist aber: leider wahr. Ein weitverbreiteter Irrglaube ist hingegen, dass die Streamingdienste hier in die Lücke springen würden. Zwar gab es da mal kurz Hoffnung – damals vor gar noch nicht so langer Zeit, als uns der Branchenprimus Netflix mit cineastischen Heldentaten wie «Marriage Story», «Roma» und natürlich «The Irishman» beglückte. Doch die hat sich längst wieder zerschlagen. Denn mittlerweile zählen auch für die ehedem noch von revolutionärem Geist beseelten neuen Player nur mehr Wettbewerb, Quartalszahlen, Börsenkurse und all der andere kunst- und vergnügungsfeindliche Dreck, der einem noch die schönstens Dinge des Lebens vergällt. Und so ist es nichts als logisch, haben auch sie Kunst durch Content ersetzt und streben mit aller Macht und kühlem Kalkül das an, was das Kino so verdammt einträglich und so verflucht austauschbar gemacht hat: eine Franchise aufzuziehen, die zum Goldesel gedeiht. Und wenn der dann denselben Mist kackt wie die Studiohengste von Hollywood – dann soll das halt so sein. Denn das mit der Revolution, das hat sich offenbar eh bloss auf die Umleitung von Geldflüssen und die Verschiebung von Marktanteilen bezogen.

Drei Autoren, null Handlung

Irgendwie tröstlich ist es da, sind die bisherigen Anstrengungen in diese Richtung bislang so krachend und erbärmlich gescheitert. Zuletzt hatte es Netflix mit dem Social-Media-Star-besetzten Actionabenteuer «Red Notice» versucht, der bis dato teuersten Produktion des Streaminggiganten. Doch weder die 360 Millionen Instagram-Follower, die die drei Leads auf sich vereinigen, noch ein Rekordbudget von 200 Millionen Dollar konnten auch nur eine müde Szene lang verbergen, dass es sich bei diesem gelackten zusammengeklauten Klamauk mehr um ein Produkt denn einen Film handelte. Aber wurscht, der Netflix-Geldbeutel ist auch nach dem unlängst bleich vor Schreck konstatierten mittelschweren Abonnenten-Exodus wohl noch immer dermassen prall gefüllt, dass jetzt schon der nächste Versuch vom Stapel gelassen wird. Dass man Lehren aus dem «Red Notice»-Debakel gezogen hätte, lässt sich freilich nicht behaupten: Auch «The Gray Man», beruhend auf einem Roman des Tom-Clancy-Kompagnons Mark Greaney, bedient sich gänzlich ungeniert bei älteren und besseren Filmen und vertraut exklusiv auf das Charisma der Stars. Und auch dieser so offenkundig von der Bourne-Reihe «inspirierte» Agententhriller verballert ein 200-Millionen-Dollar-Budget und verheizt seine Stars: den vier Jahre lang von der Bildfläche abgemeldeten Ryan Gosling, den bisweilen unterschätzten Captain-America-Recken Chris Evans und die kometenhaft aufstrebende Ana der Armas. Gosling gibt hier den verurteilten Mörder Court Gentry, der vor 18 Jahren von der CIA (in Person von Billy Bob Thornton) direkt aus dem Knast rekrutiert wurde und seither unter dem Decknamen Sierra Six Feinde Amerikas killt. Als er bei einem Auftrag in Bangkok spitzkriegt, dass sein neuer Boss (Regé-Jean Page) Dreck am Stecken hat, wird ihm der von Evans in hautengen Siebzigerjahre-Poloshirts verkörperte schnauzbärtige Psycho Lloyd Hansen auf den Hals gehetzt – auf einer von gewaltigem Materialverschleiss begleiteten Spritztour quer durch Europa, von Baku über Monaco, die Türkei, Wien, Berlin und Prag bis nach Kroatien, während der Sierra Six immerhin von CIA-Kollegin Dani Miranda (De Armas) Schützenhilfe bekommt. Und mehr gibt es storytechnisch nicht zu berichten von diesem Quatsch ohne Sauce, an dessen Skript trotzdem ganze drei Leute gewerkelt haben.

Nicht mal die Action zündet

Einer davon ist Joe Russo, der mit seinem Bruder Anthony auch die nicht über alle Zweifel erhabene Regie verantwortet. Die mit ihren «Avengers»-Riesenkisten reich und berühmt gewordenen, eigentlich aber aus dem Comedy-Fach kommenden Russos haben sich bereits vor einem Jahr für Netflix verdingt und mit dem Drogendrama «Cherry» einen sicherlich makelbehafteten, aber doch interessanten Film gedreht. An «The Gray Man» indes ist nun rein gar nichts interessant. Das mag zwar alles reichlich atemlos sein, was hier geboten wird. Es ist aber vor allem komplett einfallslos, lieb-, freud-, kraftlos und seelenlos – aber leider nicht kurz und schmerzlos. Um die zwei Stunden dauert dieser sinnfreie Bourne-Abklatsch, dessen einziger Daseinszweck zu sein scheint, die Frage zu klären, wie viele Kampfszenen sich in einen einzigen Spielfilm pressen lassen. Nun: Sehr, sehr viele, lautet die Antwort; und deshalb bleibt auch keine Zeit, sich um eine auch nur halbwegs kohärente Handlung, geschweige denn um die Figuren zu kümmern. Dass die Stars darüber nicht gerade in ekstatische Spielfreude verfallen, darf da nicht verwundern. Zumal sie obendrein statt regulärer Dialoge kaum mehr als schale Oneliner vorgesetzt bekommen, die sie mit mal mehr, meist aber weniger Lust ablesen. Am meisten Spass scheint noch Evans zu haben, wohl auch, weil er hier gegen den sonst von ihm gefragten Typ anspielen darf. Gosling und De Armas wirken derweil milde gelangweilt, glänzen dank ihres gottgegebenen Charismas aber immer noch ungleich heller als die blasse Jessica Henwick («Game of Thrones»), der chargierende Wagner Moura («Narcos») oder «Bridgerton»-Star Regé-Jean Page, der als diabolischer Strippenzieher eine monumentale Fehlbesetzung ist und eine katastrophale Leistung abliefert. Der Einzige, der wie ein Mensch agiert, ist letztlich der gute alte Billy Bob Thornton. Der Rest: Roboter und Pappkameraden. Und das ist dann ja doch folgerichtig für einen Film, an dem alles künstlich und gekünstelt wirkt, der aber stets kunstlos bleibt und teils ordinär, fast schon schäbig ausschaut. All der Rauch und Nebel, dieses Verschwommene und spärlich Ausgeleuchtete: Für einen Actionkracher dieser Dimension ist das die falsche Bildsprache. Gut möglich, dass sich die Russos etwas dabei gedacht haben: das Grau spiegeln vielleicht, in dem Sierra Six, der titelgebende «Gray Man», sich bewegt. Aber der einzige Effekt, der sich einstellt, ist eine doppelte Verwunderung: wie ein Film, der so viel gekostet hat, so wenig Eindruck schinden kann – und wie die Russos, die in «Cherry» noch mit manch bärenstarkem Bild und magischem Moment aufwarteten, derart abschmieren konnten. Ja nicht mal die Action ist trotz allem Krawall der Rede wert; sie kommt beliebig daher, ist höllisch repetitiv und wirkt in den schwächsten Momenten geradezu pomadig. Womöglich sind die Russos auch einfach zu lange im Superhelden-Genre rumgeturnt und haben dabei das Arbeiten nach Schema F gar fest verinnerlicht. Solange jedenfalls Leute wie sie die servilen Erfüllungsgehilfen für die fiebrig-feucht den Franchise-Traum träumenden Netflix-Manager geben, muss die Konkurrenz aus dem Kino nicht um den von Jason Bourne, Ethan Hunt und James Bond erspielten Action-Goldstandard bangen. Auch wenn es in den letzten Zügen liegt und bald einmal Ausschau nach neuen Zugpferden und Goldeseln halten sollte.