Sag Yeah zum Leben

Klar, dem Kino kommt die Aufgabe zu, auf soziale Missstände aufmerksam zu machen, Schrecklichkeiten zu thematisieren, den Puls der verrotteten Zeit zu fühlen. Aber es hat ebenso sehr die verdammte und heilige Pflicht, die Wunder des Lebens zu preisen, die Schönheit überschäumender Menschlichkeit zu besingen, die Herrlichkeiten irdischer Pracht zu zelebrieren. Diese zwei Dutzend cineastischen Stimmungsaufheller haben das besonders gut gemacht.

 

 

«Love Actually»

Weihnachten mag schon eine Weile her sein, aber diese romantischste aller romantischen Komödien, diese Mutter aller Romcoms geht sowieso immer. Von Keira Knightley bis Colin Firth, von Emma Thompson bis Hugh Grant: Alles, was im britischen Kino Rang, Namen und Charisma hat, gibt sich hier die Ehre. Und das clever und ungezwungen verwobene, mit Herz und Verstand, Pointen und Zeitgeist gespickte Drehbuch von Richard Curtis ist – man soll es doch ruhig so sagen – nichts weniger ein Meisterwerk.


«The Visitor»

Dieses Drama von «Spotlight»-Regisseur Tom McCarthy handelt von dem verwitweten und vereinsamten Professor Walter, der bei seiner Rückkehr in seine alte Wohnung in Manhattan dort zu seiner Verblüffung auf ein junges Paar trifft: zwei illegale Einwanderer aus Syrien respektive Senegal, die das Apartment von einem Schwindler gemietet haben. Anstatt die Polizei zu rufen, nimmt Walter die beiden unter seine Fittiche – oder ist es am Ende sogar umgekehrt? Jedenfalls lernt auch der alte weisse Mann hier eine ganze Menge; nicht zuletzt findet er wieder einen Sinn im Leben. Das klingt jetzt zwar alles grausam sozialkitschig und nach gutmenschlicher Süssholzraspelei; dank dem warmherzig-würdevollen Richard Jenkins in der Hauptrolle und einem umsichtigen Skript, das auch Platz für Trauer und Wut lässt, ist das aber einfach eine wahnsinnig intelligente Reflexion über Identität und Immigration – und ein Filetstück des humanistischen Kinos, das zutiefst berührt, ohne sentimental zu sein.


«Lucky»

Natürlich ist das auch eine traurige Angelegenheit – einfach weil das der letzte Auftritt des 91-jährig verstorbenen Kultschauspielers Harry Dean Stanton ist, dieser ikonischen Randfigur, der meist ein paar Minuten reichten, um einen Film besser zu machen. Dieser hier freilich wurde extra für ihn geschrieben. Und wie der paffende Vierschröter in dem gemächlichen und stacheligen Film als Atheist in der Lebensendkrise die Kunst zelebriert, lächelnd ins Nichts zu blicken – das ist nachgerade die Krönung einer sehr langen und ganz speziellen Karriere. Wir hingegen sind nach all dem lakonisch lebensklugen Palaver und dem geschmeidigen Fluss ins Nirgendwo und Überall am Ende nicht nur gerührt, sondern haben auch das diffuse Gefühl, jetzt ein wenig gescheiter zu sein, das Leben ein bisschen besser zu verstehen.


«Silver Lining Playbook»

Alle haben in diesem Wunder von einem Film einen Knacks, wenn nicht einen Knall – aber alle sind sie einfach zum Gernhaben. Das liegt natürlich an dem famosen Ensemble, das der Schauspieler-Regisseur David O. Russell hier abermals zu Oscar-Form dirigiert hat. Es liegt aber vor allem auch daran, dass der Film bei allen humoresken Eskapaden nie vergisst, dass diese Leute ernste Probleme haben: dass Nymphomanie, Zwangsneurosen und bipolare Störungen wohl «komödientaugliche» Krankheiten sein mögen, aber nichts Lustiges sind. Und deshalb leidet und fiebert und flucht man mit diesen schrägen Vögeln mit, statt sie zu belächeln, und lacht mit ihnen statt über sie. So sieht der perfekte Mix aus Witz und Wärme aus.


«About Schmidt»

Regisseur und Drehbuchautor Alexander Payne sollte sich später mit Meisterwerken wie «Sideways» und «Nebraska» noch zur Genüge als ausgemachter Menschenfreund profilieren. Mehr als nur geübt dafür hat er ein paar Jahre zuvor mit diesem so eindringlichen wie warmherzigen Psychogramm eines Jedermanns, der alles zurücklässt und mit einem Wohnmobil durch die USA kurvt. Wie alle Payne-Filme kommt auch sein Drittling ohne jeden Kitsch und Schmus aus. Und wie Jack Nicholson hier als pensionierter und frisch verwitweter Versicherungskaufmann ohne Eigenschaften gegen seinen Typ anspielt, wenn er etwas unbeholfene Briefe an sein Patenkind in Afrika verfasst oder konsterniert den Anschluss an seine entfremdeten Mitmenschen und ein ungelebtes Leben sucht, ist nicht nur sagenhaft rührend; es ist auch eine der besten Leistungen dieses Jahrhundert-Schauspielers.


«(500) Days of Summer»

Es solle hier keine Liebesgeschichte erzählt werden, wird diesem wunderbar verspielten, vor Witz und Ideen sprühenden, musikalisch herrlich bestückten und L.A. in seiner ganzen Pracht zelebrierenden Film vorausgeschickt. Aber das erweist sich bald als bare Koketterie. Denn es wird hier ganz im Gegenteil sogar die nahezu ultimative Liebesgeschichte erzählt, die definitive Romcom einer Generation: jener der von Joseph Gordon-Levitt und Zooey Deschanel unwiderstehlich gespielten Millennials, die sich einfach nicht entscheiden können und mögen zwischen Leidenschaft und Unverbindlichkeit, Spass und Bindungsangst. Doch so scharfsinnig und wortwitzig das Skript auch ist, so lebensecht und wirklichkeitsnah – am Ende ist das vor allem ein gewaltiger Charmebolzen von einem Film.


«Creed»

Einen Boxerfilm hat man in dieser Rubrik zwar wohl eher nicht erwartet – so eine monströse Links-rechts-Kombination des Sprosses des in «Rocky III» zu Tode geprügelten Apollo Creed hat schliesslich einen recht geringen Wohlfühlquotienten. Aber wie Hauptdarsteller Michael B. Jordon und Neuentdeckung Tessa Thompson hier eine zögerlich spriessende junge Liebe in unsere Herzen zaubern, könnte zärtlicher nicht sein. Und was der alte Sylvester Stallone mit seiner Heiligenfigur Rocky Balboa hier macht – mehr lebensmüde als lebensweise, aber absolut im Reinen mit sich –, das ist von einer herzerwärmenden Aufrichtigkeit, die ihresgleichen sucht. Es ist eine Performance für die Kinogeschichtsbücher – von einem ausgerechnet, der in seinem Fach stets das gewesen ist, was Rocky, «der beste Freund, den ich je hatte», im Boxring und sowieso im Leben war: ein Underdog.  


«Once»

Es ist eine der grossen Stärken dieses in nur 17 Tagen in den Strassen Dublins gedrehten Musikfilms, dass hier Gegebenheiten, zumal die unverrückbaren, ohne lautes Lamentieren akzeptiert werden. Die beiden Underdogs, die hier musikalisch, aber nicht amourös zueinanderfinden, jammern nicht, beklagen sich nicht, haben deshalb aber noch lange nicht resigniert, machen etwas. Machen das Beste draus. Und das Beste ist in diesem Fall gar nicht so schlecht. Und nur das Beste, das gar nicht so schlecht sein darf, wünscht man ihnen auch von Herzen. Denn sie verwöhnen uns hier nicht nur mit wundervollen Songs, an denen sie mit Herzblut, Schweiss und auch einmal einer Träne gefeilt und sich aufgerieben haben; ihnen ist dabei auch dieses selbstgerechte Künstlergehabe fremd, das ähnlichen Filmfiguren jeweils die Sympathiewerte in den Keller jagt. Nicht so in diesem kleinen Filmwunder, wo Realismus und Unmittelbarkeit das Herz erwärmen. 


«Sing Street»

Wer sich 105 Minuten lang bedingungslos gut fühlen will, ist hier goldrichtig. Und wer in den Achtzigern jung war, wird selig schwelgen und diese irische Musikkomödie von «Once»-Regisseur John Carney lieben ohne Ende: ein Plot wie aus dem «Brat Pack»-Handbuch des grossen John Hughes; exquisiter Humor voller popkultureller Referenzen; tolle Typen und super Songs; und natürlich der Slowdance in der Turnhalle – dieses Feelgood-Movie spielt alle Hits und lässt keine Wünsche offen.


«Begin Again»

Ein wahrer Gute-Laune-Onkel ist dieser John Carney. Wiewohl das auch unter dem Titel «Can a Song Save Your Life?» bekannte Musikdrama weder an den Vorgänger «Once» noch an den Nachfolger «Sing Street» heranzureichen vermag: Auch hier gibt es wieder charmante Herzlichkeit, entwaffnende Liebenswürdigkeit und bezaubernde Herrlichkeit en masse – und das abermals mit einer nur homöopathischen Portion Sentimentalität. Dazu harmonieren Mark Ruffalo und die von Carney im Nachgang freilich harsch kritisierte und wiederholt als «Model» abgekanzelte Keira Knightley auf fast schon magische Weise. Und die Songs schliesslich, die sind auch hier klasse.


«Waitress»

Obwohl hier weiss Gott nicht alles eitel Sonnenschein ist für die köstlichste Kuchen backende Heldin Jenna, wird dieser mit kleinem Geld produzierte Film beherrscht von einem eher lakonischen, nicht gänzlich realitätsfernen Ton, der wunderbar mit dem Romantisch-Märchenhaften der Inszenierung und der charmanten Beschwingtheit der Erzählform kontrastiert. Bitteres und Süsses also – das passt ja ganz gut zu diesen Pies, deren Fertigung Jenna quasi zu einer Kunstform erhebt. In Freude verbreitenden Farben und vor einer scheinbar aus der Zeit herausgelösten Kulisse schildert Regisseurin Adrienne Shelly, die kurz nach Vollendung des Films ermordet wurde, auf schlagfertig unverblümte Weise Jennas durchaus tragisches Schicksal und hofft dabei nicht vergebens auf die Sympathien des Publikums für ihre dysfunktionalen Figuren. Mit Kitsch kokettierend, aber nie klebrig werdend, hat sie ein intelligentes Werk von lupenreiner Originalität geschaffen, das von ganzem Herzen kommt und selbiges wärmt, schmelzen oder gar brechen lässt.


«The Upside of Anger»

Diese in den Detroiter Suburbs angesiedelte Filmperle ist eine nie belehrende, stets warmherzige, oft berührende und bisweilen aberwitzige Studie über den Umgang mit Enttäuschungen. Sie erzählt die Geschichte von Terry (Joan Allen), einer Mutter von vier erwachsenen Töchtern, die soeben von ihrem Mann sitzen gelassen worden ist, jetzt extrem hässig ist und kräftig bechert. Und dann schneit eines Tages der bewundernswert unambitionierte Nachbar in Person von Kevin Costner herein, und alles wird zwar nicht gut, aber erträglicher und vor allem stetig komischer. Doch bei allem Klamauk nimmt Regisseur und Drehbuchautor Mike Binder in diesem Herzensprojekt die Sorgen seiner (Anti-)Helden absolut ernst und verschachert ihre Seelen nicht für ein paar billige Lacher. Binder sagt diesen sich meist herrlich unerwachsen aufführenden Typen nicht, wie sie ihr Leben führen sollen; und selbst wenn er Terry immerzu das Falsche im falschen Moment zu ihren tapferen Töchtern sagen lässt, lässt er keinen Zweifel daran, dass sie es im Grunde gut meint. Das Herzliche und Warme durchzieht so diesen mitunter überaus hübsch fotografierten Streifen von Anfang bis zum intelligent überraschenden Ende.


«Crazy. Stupid. Love.»

Trotz einer fast unübersichtlichen Menge an amourösen Verflechtungen – personell wild kombiniert, nicht immer sauber verknüpft und generationenübergreifend – bedarf es keiner übermässigen intellektuellen Anstrengung, diesem bestens gelaunten Reigen zu folgen. Eine konstant hohe Gagqualität und manch pfiffiger Regieeinfall halten einen vielleicht nicht während der ganzen satten zwei Stunden Spielzeit bei Laune – aber fast. Und die Darsteller sind einfach ein Traum. Steve Carell, Julianne Moore, Marisa Tomei und Analeigh Tipton zeigen sich hier von ihrer gewinnendsten Seite; und Ryan Gosling und Emma Stone üben schon mal für ihren grossen und filmgeschichtlich noch etwas relevanteren Auftritt.


«La La Land»

Emma Stone und Ryan Gosling geben hier eines der schönsten Paare der jüngeren Filmgeschichte ab – in einem Film, der eine wahnsinnig schöne Geschichte erzählt und unglaublich schön ausschaut. Eine rundum schöne Sache also. Und o ja: Clever und klassisch ist er auch noch, gewagt und gewinnend sowieso, magistral und monumental gar. Inmitten all der hirnlosen Materialschlachten hat man fast das Vertrauen verloren, dass Hollywood auch noch zu was imstande ist: Mainstreamkisten, die noch jeder und jedem eine Freude bereiten müssten, ohne zerstörerische Konzessionen an den Massengeschmack zu machen. 


«Juno»

Ein amerikanischer Film über eine ungewollte Teenagerschwangerschaft – und keine erhobenen Zeigefinger und langfädigen Belehrungen, kein Schwadronieren über Unreife und Verantwortung? Dafür gebührt Regisseur Jason Reitman und der das Drehbuch verantwortenden einstigen Stripperin und Telefonsex-Sirene Diablo Cody ja schon mal im Voraus tosender Applaus. Und wenn man dann all die Originale erst mal kennen gelernt hat, die die beiden dieses preiswert gefertigte und Oscar-prämierte Feelgood-Movie bevölkern lassen, kommt man aus dem Klatschen gar nicht mehr raus: die erfrischend schnoddrige Ellen Page in der Titelrolle, der gefällig linkische Michael Cera als Kindsvater ins spe, J.K. Simmons und Allison Janney als pragmatisch reagierende Erziehungsberechtigte, Jason Bateman und Jennifer Garner als etwas orientierungslose potenzielle Adoptiveltern und die Charismabombe Olivia Thirlby als Junos beste Freundin. Und dann erst diese Dialoge! Voller Herz. Voller Wärme. Voller Menschlichkeit. Voller Toleranz. Voller Schönheit. Und vor allem voller Witz.


«Notting Hill»

Hugh Grant. Julia Roberts. Muss man noch mehr sagen? Reicht das noch nicht als Garantie für einen rundum beglückenden und herzerfrischenden Kinoabend? Okay. Dann werfen wir halt noch den Namen Richard Curtis in die Runde – das ist jener Mann, der hier wie zuvor schon bei «Four Weddings and a Funeral» und danach auch bei «Love Actually» das Drehbuch geschrieben hat. Immer noch nicht genug? Na dann. Erinnern Sie sich noch an Spike im Neopren-Anzug? Und diesen legendären Dialog über Ringo Starr? Eben.


«Big Fish»

Jedes zweite Bild, das Regisseur Tim Burton auf dieser unvergesslichen Reise in eine Welt des Fantastischen und Zauberhaften serviert, ist von solch atemberaubender Wucht, dass man es am liebsten ausschneiden und einrahmen würde. Mut zur Übertreibung und Hang zum Kitsch sind hier Programm, wobei Burton das Märchenhafte für einmal nicht überstrapaziert und zumindest mit einem Fuss auf dem Boden bleibt. Die Episoden in dieser Auseinandersetzung eines Sohnes mit seinem sterbenden Vater sind flott, witzig und mit augenzwinkerndem Enthusiasmus erzählt, Tempo und Timing stimmen zu jeder Zeit. Und ganz unauffällig lässt Burton hie und da gar noch ein wenig Tiefgang in seine Geschichte einfliessen – freilich ohne Geigengewimmer, ohne falsches Pathos, ohne einem die Moral der Geschichte unter die Nase reiben zu wollen. Das Schönste an der ganzen Sache ist aber, dass in jeder Einstellung die liebevolle Hingabe des Regisseurs an dieses Projekt zu spüren ist. Diesen Film nicht zu lieben, fällt auch deshalb so schwer. Und der Schluss? Und wie geht die Geschichte aus? Schamlos, zügellos, hemmungslos kitschig – und natürlich wunderschön.


«Chef»

«So happy, so happy», sagt gegen Ende hin der von Regisseur und Drehbuchautor Jon Favreau gleich selbst gespielte, endlich wieder freie und entfesselte Küchenberserker Carl, der den Job als Sternekoch nach einem Ausraster an den Nagel gehängt hat und nun mit einem Foodtruck durchs Land tuckert. Happy sind wir übrigens auch, danke. Denn es mag hier zwar alles hip und sozialmedial-zeitgeistig daherkommen und bisweilen ziemlich schnell zugehen – beim Reden, beim Kochen, bei den ständigen Latinorhythmen; gleichwohl ist diese sonnendurchflutete Tragikomödie mit ihrem scheinbar ziellosen Sinnieren über Freiheit und Freundschaft, familiäre Verantwortung und berufliche Selbstverwirklichung aber das filmische Äquivalent zu Slow Food. Seelenfutter, das den Appetit anregt, die Lachmuskeln reizt, die Herzen rührt. Wohlfühlig, aber nicht denkfaul. Süss mitunter, aber nie klebrig. Nur ein Wunsch bleibt am Ende offen – der nach einem dieser unfassbar schmackhaft ausschauenden kubanischen Sandwiches, die Carl hier nonstop fabriziert.


«Lady Bird»

Clever, patzig und redselig ist das Regiedebüt der Ober-Wunderkind-Hipsterin Greta Gerwig – ohne freilich neunmalklug, zynisch oder geschwätzig zu sein. Und ein Hauch Melancholie durchweht diese Tragikomödie über eine ungeduldig-trotzige 17-jährige Kalifornierin, die kurz davor steht, flügge zu werden, und also an jenem Punkt, an dem ein junges amerikanisches Leben durchgeschüttelt wird: dem Abflug ans College. Es solle wie eine Erinnerung aussehen, instruierte Gerwig ihren Kameramann, der dem Film mit den leicht verblassten kalifornischen Sommerfarben gleichsam ein Siebziger-Feeling verlieh. Und so hat es auch etwas Schwelgerisches, dieses ungeduldige Warten zwischen Festsitzen und Aufbrechen, Frust und Vorfreude, sich Verleugnen und neu Erfinden, Abschiednehmen und neu Beginnen, zwischen dem Suchen und dem Finden seiner selbst und seines Platzes auf dieser Welt, sprich: dieses Erwachsenwerden. Und es hat allerhand Magisches, an das man noch lange, lange denken wird: ganze Szenen bisweilen oder einfach eine Figur, eine Weisheit, ein Spruch, ein Kostüm, ein Song oder gar nur ein Blick. Das ist quasi der Inbegriff von Originalität.
 

«Millions»

Eine kerngesunde Mischung aus Hipness und Nüchternheit, aus Verspieltheit und Schnörkellosigkeit, aus Fiktion und Realismus hat Danny Boyle für seinen ersten richtig reifen Film gefunden, in dem ein sieben- und ein neunjähriger Junge eine Tasche voller Geld finden – zwei kindliche Helden, die so herzig und herzlich sind, dass man sich von ihnen anders als von all den Hollywood-Klugscheisserkindern liebend gerne aufzeigen lassen möchte, wie man die Welt zu einem besseren Ort macht. Bisweilen umwerfend komisch ist dieses süsse, aber nie zuckrige Familienmärchen und hoffnungslos romantisch obendrein. Zudem unbeirrt lebensbejahend und geradezu naiv.


«T2 Trainspotting»

Und grad nochmals Danny Boyle: Dass hier ein Film über Drogensüchtige auftaucht, mag jetzt nicht zwingend einleuchtend sein. Aber hey: Renton und Co. sind 20 Jahre später noch immer da! Das ist doch schon mal allerhand. Deshalb: Sag Ja zu dieser Fortsetzung, auch wenn sie ein bisschen eine Nostalgieübung sein mag. Cleaner, nüchterner, erwachsener als das Original. Aber das ist doch perfekt so. Denn 20 Jahre sind nun mal eine lange Zeit. «Wir waren jung. Schlimme Dinge passierten», sagt Renton hier einmal. Jetzt sind sie nicht mehr jung. Es passiert nicht mehr viel. Ein letztes Hurra vielleicht noch. Im Club mit den Jungen zu den 80s-Hits wüten. Dann noch mal was reinziehen. Aber man ist müde. Das High ist schal geworden. Das Coole ist verglüht. Der Trip ist zu Ende. Man hat Ja zum Leben gesagt. Und das ist doch so viel mehr, als damals Ende der Neunziger zu erwarten stand – und macht einen einfach nur glücklich.


«Boyhood»

So was hat die Welt noch nicht gesehen. Einzigartig! Überwältigend! Wundervoll! Über zwölf Jahre hinweg hat Regisseur Richard Linklater für dieses Filmereignis monumentalen Ausmasses einem texanischen Jungen beim Aufwachsen zugeschaut. Eine ungeheure Leistung ist das, was er hier vollbracht hat: ein Film, der riesigen Respekt abnötigt, der aber anders als viele Filme, die riesigen Respekt abnötigen, auch enormen Spass macht und sehr oft sehr komisch ist. Doch wie immer bei Linklater sind die Dialoge nicht nur schlagfertig, sondern auch scharfsinnig. Und ebenso passt es zu diesem Ausnahme-Autorenfilmer, dass er es sich nicht hat nehmen lassen, im Hintergrund etwas Zeitgeschichte von der Irak-Invasion bis zu Obamas Wiederwahl ablaufen zu lassen; ein wenig Popkultur in Form einer höchst geschmackssicheren musikhistorischen Reise einzustreuen; und eine kräftige Portion Texas beizugeben: Vaterland. Jesus. Waffen. Das alles rundet ein Bild ab, das ohnedies und trotz der über zwölf Jahre verteilten Dreharbeiten schon sagenhaft rund ist. Bei alledem und bei all dem Entdecken und Lernen, all dem Staunen und Begreifen, all dem Wachsen und Gedeihen scheint freilich immer eines am hellsten und klarsten durch: dass Linklater das Leben von ganzem Herzen liebt. Ein Wunder ist das. Ein unfassbar schönes Wunder. «Ist das alles nicht ein bisschen überwältigend?», fragt die Hauptfigur am Schluss. Man könnte ihr nicht mehr zustimmen.


«Eighth Grade»

Stellvertretend für feinfühlige Coming-of-Age-Filme könnte hier auch etwa «Easy A» stehen. Oder «The Perks of Being a Wallflower». Oder «The Edge of Seventeen». Oder «The Spectacular Now». Oder «Booksmart». Im Regiedebüt des noch nicht mal 30-jährigen Bo Burnham ist die ganze Sache mit dem Erwachsenwerden indes noch ein bisschen authentischer. Bisweilen ungleich grauslicher. Und am Ende einen Tick empathischer. Burnhams Heldin Kayla ist mit ihren 14 Lenzen zudem noch ein wenig jünger als unsere typischen Hollywood-Teens – und ein gutes Stück sonderbarer. Kaylas Passion sind die diversen Social-Media-Kanäle, und ihre Obsession sind die Likes, die sie darauf generiert. Leider aber verschaffen ihr ihre linkischen Youtube-Motivationsvideos für ein gesundes Selbstvertrauen nicht den erhofften Popularitätsschub, und auch das eher zufällige Herumhängen mit den coolen Kids bringt sie nicht wirklich weiter, sondern im Gegenteil in ein paar ziemlich brenzlige und wenig altersgerechte Situationen. Weil Kayla aber ein helles Köpfchen ist, kommt das am Ende, wenn nicht nur sie, sondern auch wir klüger sind, doch noch recht gut raus. Und dann wird sie erst noch belohnt mit dem wohl romantischsten Festschmaus der vergangenen Kinojahre: Ein formvollendeter Teenager-Gentleman kredenzt hier nicht weniger als 20 lauwarme Chicken-Nuggets, Pommes und tatsächlich alle sechs erhältlichen McDonald’s-Sösschen zur Wahl. Yummy – und absolut perfekt passend zu dieser Komödie voller harschem Humanismus und hehrer Herzlichkeit.


«The Straight Story»

Ein 73-Jähriger, der auf einem Rasenmäher 390 Kilometer von Iowa nach Wisconsin zurücklegt, um seinen entfremdeten Bruder zu besuchen, der gerade einen Schlaganfall erlitten hat: So eine Geschichte fällt auch nur Hollywood ein. Oder eben dem Leben, dem diese weise und herzerwärmende Story tatsächlich entnommen ist. Mit David Lynch hat diese einen vordergründig unwahrscheinlichen Regisseur. Doch wohnt dem Œuvre des Zaren des Bizarren, des Wandlers durch die Albträume, halt unbestritten auch eine zutiefst humanistische Komponenten inne. Und weil Lynch der quintessenzielle Chronist des amerikanischen Raums ist und zudem ein gewisses Faible für das Langsame, den Quasi-Stillstand hat, ist er letztlich eben doch wie kaum ein anderer qualifiziert, dieses Roadmovie in Zeitlupe durch die verschlafenen Nester des ruralen Mittleren Westens der USA zu erzählen: gespickt mit lakonisch tiefschürfenden Anekdoten aus dem Leben des sympathischen alten Manns, gewürzt mit herzlichen Begegnungen mit lebensechten Jedermännern, veredelt von einem schwelgerischen Soundtrack von Lynchs Hauskomponist Angelo Badalamenti – und gekrönt von einer Schlussszene von überwältigender und reinster Schönheit: Wie Richard Farnsworth und Harry Dean Stanton, diese beiden knorrigen alten Schweiger, am Ende still in den Sternenhimmel kucken, das ist pure Magie – ein Moment überschäumender Menschlichkeit und der Gipfel cineastischer Pracht.