von Sandro Danilo Spadini
Immer wieder ist dieser (Wahlkampf-)Tage davon zu lesen, die USA befänden sich in einer kollektiven Identitätskrise. Ein Land auf der Suche nach sich selbst. Orientierungslos, verunsichert,
paralysiert ob des Blutes, des Verrats, der Finsternis. Betend, bettelnd, ringend um Werte, um Ziele, um Träume. Kein Wunder also, fällt in diese Zeit der bangen Selbstreflexion eine lange Reihe
von ambitionierten Filmen, die sich auf je eigene und immer dezidiert kritische Art der «Americana» annehmen und sich das Ergründen der amerikanischen Seele auf die besternte und gestreifte Fahne
geschrieben haben. Und schon gar kein Wunder, spielen viele dieser Filme im tiefen und bisweilen wilden Westen der USA. Denn wo, wenn nicht dort, gleichsam an ihrem Geburtsort, ist diese komplexe
und widersprüchliche amerikanische Seele aufzuspüren? Wo, wenn nicht dort, am Ort der verlorenen Unschuld quasi, sind die Antworten auf die lange verdrängten und nun so drängenden Fragen zu
finden?
Ein amerikanisches Meisterwerk
Man muss nicht Freud und muss kein Spitzenpolitologe sein, um zu erkennen, dass vieles, was heute mit den USA falsch läuft, in der Kindheit des Landes begründet liegt und mit dem elenden Öl
angefangen hat. Das Schwarze Gold ist denn auch die treibende Kraft hinter dem Plot des wohl amerikanischsten aller Filme, die in letzter Zeit auf die Leinwand gelangt sind. Doch in «There Will Be Blood», der Verfilmung eines Romans von
Upton Sinclair durch den sich nach fünfjähriger Filmpause fulminant zurückmeldenden Wunderknaben Paul Thomas Anderson («Magnolia»), geht es noch um mehr, um Wichtigeres gar: Gier, Familie,
Religion. Universelle Themen zwar, doch eben auch uramerikanische. Anschaulich gemacht mittels einer alle filmischen Ebenen – die formale, die inhaltliche, die personale – prägenden, hypnotisch
und psychotisch wirkenden Kargheit, die durch den atonalen orchestralen Score von Radiohead-Mann Jonny Greenwood auch ihr musikalisches Äquivalent findet. Ein zutiefst seltsamer Film ist das. Und
ein ziemlich brillanter dazu. Vielleicht sogar, wie nicht wenige sagen, das Meisterwerk schlechthin dieses Jahrzehnts. Erinnerung an George Stevens’ «Giant», vor allem an die Figur von James
Dean, werden wach. Parallelen zu Orson Welles’ «Citizen Kane», den nach Expertenkonsens besten Film aller Zeiten notabene, lassen sich ziehen. Die quintessenzielle Americana lässt sich
herausdestillieren. Doch muss gleichzeitig gewarnt werden: Das reine Vergnügen ist es nicht, wenn Anderson den um die vorletzte Jahrhundertwende angetretenen Weg Daniel Plainviews vom Schürfer
zum Magnaten und so exemplarisch die Anfänge des Ölgeschäfts nachzeichnet. Nicht allzu viel Denkarbeit ist dabei freilich gefragt, sondern Ausdauer. Und Zeit. Denn über zweieinhalb Stunden dauert
diese verstörend düstere und beispiellos kompromisslose Expedition zu dem recht eigentlich bis zur letzten Szene hermetisch abgeriegelten Inneren dieses besessenen Mannes, der weit sympathischer
war, als er noch über keine Eigenschaften zu verfügen schien.
Finsterer Protagonist
Es ist zum Staunen, was Anderson hier geschaffen hat. Man staunt buchstäblich von der ersten Szene an. Zweieinhalb Stunden lang. Und danach gar noch mehr. Dass «There Will Be Blood» in der
Nachbetrachtung noch mehr Wirkung entfaltet, hat viel mit Hauptdarsteller Daniel Day-Lewis zu tun, der für seine hochkonzentrierte Darstellung des soziopathischen Protagonisten aller Voraussicht
nach und zu Recht seinen zweiten Oscar gewinnen wird. Sein Daniel Plainview ist eine jener raren Filmfiguren, die in unseren Gedanken, ja (Alb-)Träumen weiterleben. Die unvergessen bleiben. Die
sich in unser Gedächtnis einbrennen. Auf immer und ewig. Ob wir wollen oder nicht. Und wir wollen eher nicht. Denn Daniel Plainview ist ein grauenhafter Mensch. Daniel Plainview ist die
Finsternis, die nach der Finsternis greift. Daniel Plainview ist alles, was mit Amerika falsch läuft. Eine Mahnung sozusagen. Wie man sie im Kino in dieser Form noch nicht gesehen hat. Und die
deshalb umso furchterregender ist.