Schockierende Betrachtungen eines Kindermädchens

Wiewohl einiges an satirischem Potenzial ungenutzt lassend, erweist sich die in den Hauptrollen exzellent besetzte Komödie «The Nanny Diaries» als erfreulich facettenreiche Bestseller-Adaption.

 

von Sandro Danilo Spadini

Da sitzt sie nun im Central Park und hat keine Ahnung, was sie mit diesem angebrochenen Leben anfangen soll, ja weiss nicht einmal mehr, wer sie ist. Ihre persönlichen Eckdaten sind ihr zwar sehr wohl noch präsent: Annie Braddock mit Namen, 21 Lenze zählend, von New Jersey herkommend, frisch gebackene College-Absolventin in Wirtschaft und Anthropologie. Weil man nun aber ist, was man macht, ist Annie recht eigentlich nichts. Bewusst geworden ist ihr das eben erst, im Rahmen eines üblen Vorstellungsgesprächs bei Goldman Sachs. Bankerin will Annie jetzt nicht mehr werden, so viel ist schon mal klar. Und sollte sie wirklicsh ihren Wunschjob Anthropologin wählen, würde sie sich in ihrem Traumort Manhattan nicht einmal eine Kartonschachtel als Behausung leisten können. Deshalb ist Annie jetzt ganz verzagt, und deshalb kommt ihr der vierjährige Satansbraten Grayer jetzt gerade recht. Denn Grayer, den Annie soeben vor Schlimmem bewahren konnte, hat auch eine Mutter, die da nun ebenfalls im Central Park steht, in Dior-Schlangenlederjacke und Louis-Vuitton-Schuhen gewandet, aufgelöst in Dankbarkeit und mit einem spontanen Jobangebot in petto. Und so kommt es, dass unsere Heldin an der Upper East Side landet und für einen sich als unerquicklich strapaziös erweisenden Sommer ihre Persona tauscht: Aus Annie wird Nanny.

Gegen den Typ besetzt

In dieser Bestseller-Adaption des Regie-Ehepaars Shari Springer Berman und Robert Pulcini («American Splendor») ist auf den ersten Blick vieles anders. «The Nanny Diaries» geben sich mittels süffisanten Off-Kommentars den Anstrich einer anthropologischen Studie, womit Annie, mit natürlichem Witz und adäquater Tiefe dargestellt von Scarlett Johansson, also doch noch ihrer Wunschbeschäftigung nachgehen kann. Schaut man jedoch nur ein Jahr zurück und dabei etwas genauer hin, stösst man auf Griffin Dunnes kaum beachtete, fast identisch konzipierte Komödie «Fierce People». Und wie sich noch weisen wird, haben diese «Kindermädchen-Tagebücher» überdies letztlich vor allem auch ganz viel gemein mit üblichen urbanen Märchen um kleine Mädchen in der grossen Welt wie «The Devil Wears Prada», wo ein befremdeter Blick von unten nach oben geht. Nach flottem Aufgalopp driftet der Film nämlich immer wieder ins allzu Rührselige, gar Konventionelle und völlig Vorhersehbare ab und lässt dabei bisweilen das satirische Potenzial der Geschichte links liegen. Gleichwohl hat das hier nicht nur dank eines guten Sinns für Humor und einer kecken Regie so seine Reize. Deren vorzüglichster ist gewiss die untypische Besetzung. Derweil sich Johansson für einmal betont schlicht zu geben hat und Chris Evans als obligates «Love Interest» sowie Alicia Keys als vernunftbegabter «Sidekick» mehr dekorative Zwecke erfüllen, darf sich die sonst wenig glamourgewohnte Laura Linney in der Rolle der nur Mrs. X genannten Feierabendmutter aufdonnern bis zum Anschlag, und Paul Giamatti erhält als Mr. X die rare Gelegenheit, sich als roher reicher Sack zu inszenieren.

Facettenreiches Vergnügen

So pointiert die Besetzung, so gewöhnlich sind freilich die Figuren. Das (ziemlich versierte) Spiel mit Stereotypen ist indes durchaus intendiert, implizieren doch gerade die generischen Namen von Annies Arbeitgebern eine gewisse Universalität. Es ist dann aber auch nicht erstaunlich, dass bei den augenzwinkernden Betrachtungen der realitätsfernen Rabeneltern und skandalösen Sklaventreiber aus der feinen Gesellschaft kaum allzu Subtiles entdeckt wird. Die hübschen Details finden sich vielmehr im Visuellen, wo wie zuletzt so oft abermals New York dominant auftritt – hier notabene nicht in Form einer schlichten Postkartensammlung, sondern schon eher als Premium-Bildband. Da nebst dieser herrlichen Stadtführung wenigstens in Ansätzen auch noch der Klassenaspekt untergebracht wurde, bieten die «Nanny Diaries» letztlich ein erfreulich facettenreiches Filmvergnügen – mit einer in ihrer Rolle vollkommen aufgehenden Scarlett Johansson im Spotlight, die wie weiland Audrey Hepburn im Nu jedermanns Herz erobert.