Netflix
Von Sandro Danilo Spadini
Es gibt da früh in der Pilotepisode von «Twin Peaks» eine Szene, die das Wirken von David Lynch und seine Wirkung auf uns recht gut fasst: Ein altmodischer schwarzer Telefonhörer baumelt in der
Luft, im Schock fallen gelassen von einem gramgebeugten Vater; Schreie unermesslichen Schmerzes dringen aus ihm, die Schreie einer Mutter, die soeben erfahren hat, dass ihre 17-jährige Tochter
gestorben ist. Darüber erklingen traurig-schaurig-schöne Pianoklänge, die allmählich in ein unheilschwangeres Dröhnen übergehen: Klassische Klänge eigentlich in einem eigentlich klassischen
Setting, und doch ist das hier irgendwie, auf eine schwer benennbare, kaum bestimmbare, nicht fassbare Weise anders als alles, was man sonst so gesehen hat; alles scheint ein wenig verschoben,
leicht verrückt – man mag sogar sagen: bizarr. Oder womöglich: surreal. Aber warum, wenn das doch so unwirklich und traumartig ist, warum fühlen wir uns dann, als ob uns ein Messer in unser
Herzen gerammt worden wäre; warum spüren wir beinahe physisch die Pein dieser armen Eltern; oder mit anderen Worten: Warum wirkt das alles so unheimlich real? Die Antwort kann nur sein: weil hier
ein Künstler am Werk war, der wie wenige andere eine Ahnung von der Welt um ihn herum und der menschlichen Psyche hat, obwohl (oder wer weiss: weil?) er gemäss seinem langjährigen Kompagnon Mark
Frost «resolut antipsychologisch» und «antiintellektuell» ist.
Die abgründige Düsternis
Künstler trifft es hier übrigens wirklich gut. Denn David Keith Lynch, geboren heute vor 75 Jahren in der Kleinstadt Missoula, Montana, ist das, was die Amerikaner einen «Renaissance Man» und wir
etwas prosaischer vielleicht einen «Universalgelehrten» nennen. Seine Wurzeln liegen in der Malerei; in den Sechzigern verlustierte er sich an der Pennsylvania Academy of Fine Arts zu
Philadelphia. Und auch wenn er sich alsbald dem Filmemachen zuwenden und in Los Angeles über den Zeitraum von sechs Jahren den Untergrund-Kultfilm «Eraserhead» drehen sollte, so hat ihn diese
Zeit in einer Stadt, die beherrscht gewesen sei von extremer Gefahr und intensiver Angst, die voller Gewalt und Hass und Schmutz gewesen sei, mehr geprägt als alles andere. Und all der goldene
kalifornische Sonnenschein, den er in seinem Haus und dem Atelier hoch oben in den Hollywood Hills seit Jahrzehnten aufsaugt, und all die Aberstunden von Transzendentaler Meditation, deren
profiliertester Verfechter er ist, haben diese Düsternis nicht zu bannen vermögen. Denn aus dieser abgründigen Schwärze, die man diesem so sanft und immer ein wenig drollig wirkenden Filmemacher,
Maler, Zeichner, Musiker, Autor und Schauspieler so gar nicht andichten würde, fischt Lynch seine Ideen; in ihr findet er all die niederschmetternden Geheimnisse, mit denen er seine Werke füllt.
Selbst das Alter hat daran nichts gemildert; wenn schon, dann ist Lynch in seinem Spätwerk noch radikaler geworden, nicht nur was das rigorose Ignorieren logischer Erzählmuster zugunsten einer
intuitionsgetriebenen Vision und ein kompromissfreies Beharren auf künstlerischer Integrität angeht – was ihn zusehends auf noch mysteriösere Pfade und in immer verworrenere Gefilde geleitet hat.
Seinen neueren Filmen haftet auch vermehrt etwas Kaltes und Hartes an, das sich schon in den beiden gerade noch mit verstandesgesteuerter Herangehensweise zu dekodierenden Geniestreichen «Lost
Highway» und «Mulholland Dr.» um die Nullerjahre Bahn brach und in der «Twin Peaks»-Fortsetzung von 2017 einen Kontrast zur durchaus warmherzigen Originalserie hämmerte.
Der Kinomagier im TV
Das Fehlen dieser humanistischen Herzlichkeit, die sich gerade in den Oscar-nominierten Filmen «The Elephant Man» (1980) und «The Straight Story» (1999) als eine der grossen Gaben Lynchs erwiesen
hatte, trug nebst der weitgehenden Absenz von Eulen, Donuts und anderer «Twin Peaks»-Folklore denn auch nicht unwesentlich zu einer recht gemischten Reaktion auf das fanatisch herbeigesehnte
Fortsetzungswerk des zuvor so unerträglich lange im Obskuren werkelnden Grossmeisters bei: So wurde «The Return», dieses von Lynch von A bis Z solo inszenierte 18-stündige Mammutprojekt, in dem
er völlig entfesselt all seine Vorlieben und Obsessionen gleichsam zur ultimativen «David-Lynch-Show» goss, zwar sehr wohl bewundert und weitherum höchstrenommiert und frenetisch gefeiert – aber
im Fussvolk dann doch nicht ganz so innig geliebt und gehätschelt wie das 25 Jahre ältere Stammwerk. Dieses hatte Lynch mit dem fernseherfahrenen, klassisch gebildeten und eher logisch denkenden
Autor Mark Frost, der auch beim Comeback die Zügel mit in der Hand hielt, in vergleichsweise jungen Jahren erschaffen; und es liesse sich die paradoxe These aufstellen, dass die von noch
allerhand Restriktionen gezähmte Serie aus der Kabelfernseh-Ära dann doch das Opus Magnum des Kinomagiers David Lynch sei (wiewohl «Twin Peaks», was absurd oft vergessen geht, ohnehin nicht nur
Lynchs und anders als «The Return» auch nicht nur Lynchs und Frosts Werk war, sondern eine Gemeinschaftsarbeit eines guten Dutzends Regisseure und Schreiber, von der Lynch gerade mal ein Fünftel
inszenierte und in deren Fortentwicklung er laut Frost ansonsten nur am Rande involviert war). Unstrittig ist indes, dass «Twin Peaks» das nachhaltigste Erbe des «Zaren des Bizarren» ist,
zumal es nach einhelliger Lehrmeinung das Serienschaffen revolutionierte und den Weg ebnete für all die televisionären Perlen, die ab der Jahrtausendwende die Mattscheibe zu erhellen
begannen.
Die verlorene Unschuld
Ein weiteres Paradox im Œuvre dieses Mannes, der nachgerade besessen ist vom Dualen und den Gegensätzen, der schon zum vierten Mal verheiratet ist und es sich offenbar doch mit niemandem
verscherzt hat, der das kalifornische Wohlfühlmantra so sehr umarmt, wie er Zucker, Koffein, Speck und Zigaretten liebt – dieses abermalige Paradox also ist, dass das ein Jahr nach Serienende
erschienene, vom Publikum mit Abscheu verschmähte und von der Kritik mit Inbrunst verrissene Kinosequel «Twin Peaks: Fire Walk with Me» der recht sicher definitive David-Lynch-Film ist. Klar ist
da «Mulholland Dr.», der gemäss einer BBC-Umfrage beste Film des 21. Jahrhunderts. Aber der mittlerweile längst rehabilitierte Kassenflop von 1992 nimmt in Lynchs Herzen und in seinem bis heute
nicht erloschenen Interesse für die Figur der so übel versehrten Laura Palmer offenkundig einen noch spezielleren Platz ein und ist in seinem eskalierenden Wahn und seiner in die mondlose
Seelennacht hineinwabernden Tragik gar noch hypnotischer als das verschachtelte Hollywood-Rätsel, das Lynch einst als Pilot für eine weitere Fernsehserie konzipiert hat. Beiden dieser
Meisterwerke wohnt freilich jenes Leitmotiv inne, das Lynch zeit seines Schaffens beschäftigt und zeit seines Lebens zu schaffen gemacht hat: der Verlust der Unschuld – Laura Palmer aus «Twin
Peaks» und Betty aus «Mulholland Dr.» sind insofern Seelenverwandte von Jeffrey Beaumont aus Lynchs Frühwerk «Blue Velvet». Etwas vom wenigen, was der notorisch kryptische und frustrierend
auskunftsscheue Lynch freimütig preisgegeben hat, ist, wie sehr er seine Kindheit geliebt hat. Als komplett und total fantastisch habe er damals die Welt empfunden, sagte er einmal; in einem Ei
sei er aufgewachsen: beschützt von den Unbilden der rauen, der erwachsenen Wirklichkeit, die dann in Philadelphia eben umso heftiger auf ihn einprasseln sollten. Dieser stets betrauerte, dieser
nie überwundene Verlust der kindlichen Unschuld, er ist denn auch omnipräsent im Werk des ewigen Pfadfinders Lynch und spiegelt sich gerade in seiner vermeintlich widersprüchlichen Vorliebe für
die braven Fünfziger wider, die etwa in den Kostümen und Requisiten, den Autos und der Musik in seinen Film offenbar wird. Oder wie es seine Biografin Kristine McKenna in dem sehr lesenswerten
und noch hörenswerteren Buch «Room to Dream» beschreibt: «Die Fünfziger sind nie wirklich vergangen für Lynch.»
Der amerikanischste Regisseur
Den Orten, die David Lynch kreiert, haftet also auch deshalb stets etwas Zeitloses an, weil er ihnen ihm unvermindert präsente Souvenirs aus seiner Kindheit unterzujubeln pflegt. Seine
Traumlandschaften gehen dabei indes weit über das Private und Persönliche hinaus: Diese «fremden und seltsamen Welten», wie sie der just seiner Unschuld beraubte Jüngling Jeffrey in «Blue Velvet»
mit wohligem Schaudern beschreibt, sind immer auch ein (Horror-)Trip in die Psyche seiner Landsleute. Und überdies und zuvörderst ist Lynch, dessen Vater für das US-Landwirtschaftsministerium
arbeitete und die Familie berufsbedingt quer durchs Land schleifte, von Montana über North Carolina, Idaho und Virginia bis nach Kalifornien, auch einer der versiertesten Vermesser des
amerikanischen Raums. Recht eigentlich ist er so noch vor Martin Scorsese sogar der amerikanischste Regisseur der Gegenwart, der nicht nur das gottlose Treiben in Hollywood («Lost Highway»,
«Mulholland Dr.», «Inland Empire») und in den schummrigen Schuppen von New Orleans («Wild at Heart») seziert, sondern auch unter die weiss umzäunte Oberfläche des Kleinstadtlebens im pazifischen
Nordwesten («Twin Peaks»), im Südosten («Blue Velvet») und im Mittleren Westen («The Straight Story») späht.
Die erhellende Verwirrung
In «Twin Peaks: The Return» hat es ihn dann auch noch nach Las Vegas, North Dakota, New York und Texas verschlagen. Und es ist nicht auszuschliessen, dass er demnächst an einen dieser Orte
zurückkehren wird. Die offizielle Bestätigung steht zwar noch aus, doch gilt es als gesichert, dass Lynch – vermutlich für Netflix – über einer neuen Serie mit dem Arbeitstitel «Unrecorded Night»
sinniert. Nicht wenige unken, dass es sich hierbei um eine Geschichte aus dem «Twin Peaks»-Universum handelt: aus diesem Ort, der in den Worten von Agent Cooper «both wonderful and strange» ist,
wundervoll und seltsam. Wie dem auch sei, eines ist gewiss: dass wir uns auf eine Reise gefasst machen dürfen, die uns zutiefst verwirren und unsere Sinne vernebeln wird, auf der wir aber, wenn
wir es richtig anpacken, abermals maximale Klarheit und komplette Erhellung erfahren werden. Das Einzige, was wir dafür tun beziehungsweise lassen müssen: uns schwere- und bedingungslos auf die
Vision des David Lynch einlassen und unser antrainiertes Beharren auf kopfgesteuerter Sinnhaftigkeit aus den Knochen schütteln. Denn es ist eben kein esoterischer Schmäh, wenn es heisst, dass man
ein Lynch-Werk nicht rational zu fassen versuchen soll, sondern erspüren und erfahren muss.