Der Freak im Schafspelz

Die isländische Schauermär «Lamb» geht das Thema Elternschaft auf ureigene Art an. Und auch wenn sie dabei einiges Profundes zutage fördert – auf Spielfilmlänge trägt das strube Konzept nicht.

Filmcoopi

von Sandro Danilo Spadini

Man sagt den Leuten da oben im Norden ja nach, dass sie schweigsame Gesellen seien. Aber dass es in Valdimar Jóhannssons Spielfilmdebüt «Lamb» volle zehn Minuten dauert, bis das erste Wort fällt – das treibt die Sache dann doch ein bisschen auf die Spitze. Es ist das freilich programmatisch für diese in Cannes uraufgeführte Schauermär, deren sonderbare Handlung auf einer abgelegenen isländischen Farm ihren unheimlichen Lauf nimmt. Denn allzu aus- und einladend wirkt das nicht, wie es sich die arbeitsamen Eheleute Maria (Noomi Rapace) und Ingvar (Hilmir Snær Guðnason) dort eingerichtet haben. Spartanisch und mithin der Umgebung draussen angepasst schaut es indes nicht nur in der immerhin von Hund und Katze ein wenig heimelig gemachten Behausung des kinderlosen Paars aus; auch ihrem Miteinander wohnt eine gewisse Genügsamkeit inne. «Ich mag es im Hier und Jetzt», sagt Ingvar denn auch einmal. Marias stets leicht starrer Blick mag zwar suggerieren, dass sie das jetzt nicht blindlings unterschreiben würde. Dies hat allerdings nicht so sehr damit zu tun, dass es einem hier in dieser kargen Zweisamkeit, die zunächst keine Menschenseele weit und breit stört, auch mal mulmig werden könnte – ein Gefühl, das uns schon in der brillanten allerersten Einstellung befallen hat, als sich die Kamera unter drohend dröhnenden Klängen in urwüchsigen Gefilden den Weg durch eisiges Schneegestöber Richtung Haus bahnte und man eine mystische Präsenz auszumachen meinte, die die wild in der Kälte umherirrenden Pferde scheu machte und dann im Stall endlich auch die Lämmer zum Schweigen brachte.

Konstant bedrohlicher Unterton

Es war Heiligabend, und während draussen irgendetwas Jenseitiges vor sich zu gehen schien, ward drinnen in der Scheune einem der Schafe etwas gar Wunderliches widerfahren, wie sich alsbald weisen wird. Maria und Ingvar freilich nehmen es unendlich dankbar als bares Wunder hin, als ebendieses Schaf ein Wesen zur Welt bringt, das nicht von selbiger ist und je länger, je mehr ganz buchstäblich menschliche Züge annimmt. Sie taufen also dieses Kind im Schafspelz auf den Namen Ada, nach ihrer totgeborenen Tochter, die der Grund für Marias stille Starrheit ist, und hätscheln es und päppeln es auf, ziehen es im Haus gross, lassen es im Kinderbett im Elternschlafzimmer schlummern, wiegen es in den Armen und schliessen es in ihr Herz. In entrückter Verzückung zelebrieren die beiden den Traum von Elternschaft, das Glück scheint vollkommen, doch hier draussen herrschen andere Gesetze; hier hat die Natur das Sagen, und diese Natur, sie ist mächtig. Übermächtig und unbarmherzig. Wer wider sie handelt und die natürliche Ordnung missachtet, wird unweigerlich den Preis für diesen Frevel zahlen müssen. Daran steht angesichts des noch bei den harmlosesten Verrichtungen jederzeit beängstigend bedrohlichen Untertons in diesem Familienhorror stets ausser Frage.

Grimmsche Moral, grimmige Mahnung

Eine ganz strube Sache ist das, was der grösstenteils auf einer Schaffarm aufgewachsene Regisseur Jóhannsson und der vornehmlich für seine Björk-Liedtexte bekannte Autor, Lyriker und Künstler Sjón da zusammengesponnen haben: eine Absurdität, die leicht ins Alberne kippen könnte. Dass das auch dann nicht passiert, wenn die krude Kreatur gross genug ist, um in Menschenkleidern herumzuzotteln, ist der unnachgiebigen Ernsthaftigkeit geschuldet, mit der Jóhannsson hier ans Werk geht. Denn nur so kann etwas Derartiges aufgehen: wenn der Regisseur «all-in» geht, nie blinzelt, nie auf ironische Distanz macht, den Plot dramatisch unterfüttert und konsequent so zu Ende erzählt. Jóhannsson tut das, indem er «Lamb» als mythologische Schauermär mit folkloristischem Einschlag aufzieht und mit einer grimmschen Moral und einer grimmigen Mahnung ausstattet. Und indem er schon sehr zeitig absolut unmissverständlich klarmacht, dass das unter der freakigen Oberfläche im Kern eine tragische Geschichte ist, die einiges Profundes zum Thema Elternschaft zu sagen hat, wenn etwa Maria in den rabiaten Kampfmutter-Modus schaltet und Ingvar dem Glück ein wenig nachhilft. Das ist fraglos ein originelles, spannendes Konzept. Die Frage ist nur, ob es auch auf Spielfilmlänge trägt. Dass das eher nicht der Fall sein wird, zeichnet sich bereits mit der Ankunft von Ingvars Bruder Pétur (Björn Hlynur Haraldsson) ab. Dieser notorische Tunichtgut bringt zwar etwas Leben in die dröge Bude und liefert einen frischen Blick auf das bis hierhin nur von der Katze kritisch beäugte weltfremde Geschehen; doch seine Skepsis weicht ebenso schnell, wie die vitalisierende Wirkung des Neuankömmlings verpufft, dessen aufdringliches Anbaggern seiner ihm ehedem durchaus zugeneigten Schwägerin quer in der Gegend steht und recht eigentlich nichts zur Sache tut. Mit Anbruch des dritten und letzten Kapitels legt sich dann eine gewisse Lethargie über das bisweilen beliebig gewordene Familiendrama, dessen Horrorelemente und Schockeffekte mehr und mehr im Nebel verloren gegangen sind. Berückend fotografiert und bestechend in die Landschaft eingebettet ist das wohl unvermindert; und auf der Tonspur geschehen nach wie vor kleine Wunder. Aber wenn dann am Schluss das Unvermeidliche passiert, zeigt sich, dass das auf emotionaler Ebene einfach nicht richtig funktioniert – und dass das am Ende dann halt doch mehr ein Konzeptfilm ist.