Tanz der kleinen Diebe

Die solide wie überraschungsarme Verfilmung des Charles-Dickens-Klassikers «Oliver Twist» reiht sich innerhalb des Œuvres von Regielegende Roman Polanski irgendwo im Mittelfeld ein.

 

von Sandro Danilo Spadini

Was fängt man bloss an mit einem Film wie Roman Polanskis «Oliver Twist»? Einem Film, dessen Beurteilung bereits im Grundsatz, bei der Frage, ob es dies denn unbedingt gebraucht hat, Probleme aufwirft? Als das Projekt vor etwa zwei Jahren angekündigt wurde, löste das in der internationalen Filmgemeinde, bei deren Anrainern und Zugewandten Orten ein mehr oder minder kollektives Schulterzucken aus: «Kann man ja machen, muss aber nicht sein.» Im stillen Kämmerlein hatte man von einem Mann, einer Legende, einem Regiegott wie Roman Polanski freilich schon einen etwas frischeren Stoff, eine etwas zündendere Idee, etwas mehr Einfallsreichtum und Wagemut erwartet. Allerdings ist dieser «Oliver Twist» so etwas wie eine Herzensangelegenheit für den vom Leben hart geprüften 72-Jährigen, lassen sich doch hier gar mehr noch als beim Holocaustdrama «The Pianist» Parallelen zu Polanskis eigener Biografie ausmachen: Wie der Waise Oliver, der sich in den dreckigen, von Nutten, Dieben und Mördern bevölkerten Strassen Londons durchschlagen muss, war Polanski als Zehnjähriger auf sich alleine gestellt, nachdem seine Eltern 1943 von den Nazis aus dem Krakauer Ghetto nach Auschwitz respektive Mauthausen deportiert worden waren. Und wie Dickens’ kindlicher Held hatte Polanski eine Odyssee anzutreten, die ihn in die Abgründe der Armut führte, und dabei einen Überlebenskampf auszufechten, aus dem er am Ende als Sieger hervorging.

Beschwerlicher Weg

Wenn also Polanski, der mit «Macbeth» (1971) schon einmal einen Klassiker umgesetzt und mit «Tess» (1979) auch das England des 19. Jahrhundersts bereits ausgekundschaftet hat, Olivers Weg nachzeichnet, darf mit einer grossen Portion Hingabe gerechnet werden; der Respekt, den er vor seiner Vorlage zu haben scheint, verbieten es ihm indes, eine wirklich persönliche Note einzubringen. Entsprechend belässt er es dabei, sorgfältig das Wesentliche aus Dickens’ voluminösem Werk herauszudestillieren. Die so gewonnene Essenz weist auf Handlungsebene entsprechend alle markanten Punkte auf: Olivers von Prügeln und Hunger gekennzeichnete Zeit im Waisenhaus, seinen ebenso garstigen Kurzaufenthalt als Gehilfe bei einem Leichenbestatter, den Fussmarsch nach London, die ersten Gehversuche in der Metropole – und die Aufnahme in den Kreis der jugendlichen Trickbetrüger um den alten Gauner Fagin. Letzteres ist dann der Ausgangspunkt zum Kernstück der Geschichte, wenn Oliver mit nunmehr gefülltem Magen und dank des Engagements eines Edelmanns mit allmählich prosperierenden, von den Ganoven aber einstweilen noch versperrten Lebensperspektiven mit Mord und Totschlag konfrontiert wird. Es ist aber letztlich auch anderweitig alles da, was Dickens geschrieben hat: Die Atmosphäre – dunkel, nicht jedoch düster – ist adäquat; das raue alte London – obwohl einmal mehr von Prag «gedoubelt» – wirkt dank Detailverliebtheit glaubwürdig; der fast unverständliche Cockney-Akzent passt; das ausgeklügelte Kostümdesign stimmt; der Grundton – hier eine Prise märchenhaften Zaubers, dort eine Prise Sozialkritik – ist richtig. Es fehlt eigentlich nichts. Und doch fehlt etwas. Irgendetwas. Dickens- oder Polanski-Magie vielleicht?

Kino für den Moment

Nochmals: Was fängt man nun an mit einem solchen Film? Einem Film, an dem es im Grunde nichts auszusetzen gibt, bei dem es aber überaus schwer fällt, etwas ausdrücklich Lobenswertes zu finden? Polanskis «Oliver Twist» ist vieles nicht: Er ist nicht zäh und dennoch nicht allzu spannend. Er ist vom zwölfjährigen Barney Clark in der Hauptrolle und von Ben Kingsley als Fagin (dem einzigen «Star» im Aufgebot) nicht überragend, aber auch nicht lamentabel gespielt. Er ist weder eine verunglückte noch die definitive Dickens-Adaption. Er ist kein Kinder- und kein Erwachsenenfilm. So wenig wie er einem das Herz zerreisst, so wenig lässt er einen kalt. Er ist nicht gewichtig, gewitzt, originell, kantig-naturalistisch, und er ist nicht töricht, bierernst, abgedroschen, schwärmerisch-pittoresk. Doch was ist er nun? Sauber produziertes, hübsch fotografiertes, handwerklich einwandfreies Unterhaltungskino – ein gutklassiger Big-Budget-Streifen, ein durchschnittlicher Polanski-Film. Das ist nicht viel, und das ist nicht wenig. Ein Mann vom Range und Selbstverständnis eines Roman Polanski möchte natürlich immer etwas drehen, von dem man in 50, wenn nicht in 100 Jahren noch spricht. Hier aber liegt ein Werk vor, das in sechs Monaten wieder vergessen sein wird: kein Kino für die Ewigkeit, sondern für den Moment – für einen feinen wie flüchtigen Moment.