Verrückte Fussballgötter

Mit feinem Witz und formaler Eleganz jongliert Regisseur Gil Mehmert in der märchenhaften Independentproduktion «Aus der Tiefe des Raumes» mit deutschen Fussballmythen.

 

von Sandro Danilo Spadini

Fussballer als Popstars – das ist keineswegs ein Phänomen unseres marketinghörigen Medienzeitalters. Bereits zu einer Zeit, als Mama Beckham Klein-David noch die Windeln wechselte, bewegten sich Glamour und Zeitgeist verkörpernde Helden des runden Leders auch abseits des die Welt bedeutenden Rasenvierecks im boulevardesken Blitzlichtgewitter. Was den Briten die verruchte Skandalnudel George Best oder den Österreichern der ungleich bodenständigere Strassenbauersohn Hans Krankl, war den Deutschen der divenhafte Rebell Günter Netzer: Mit der obligaten 10 auf dem Rücken, Schuhgrösse 47 und dem Aktionsradius eines Bierdeckels verzückte der inzwischen längst zur eloquenten Ikone deutscher Fussballberichterstattung gereifte Netzer seine Fans auf den Rängen; und mit akkurat gescheitelter blonder Mähne, modebewusstem Outfit und schnittigem Sportwagen wusste er sich auch ohne Ball gekonnt in Szene zu setzen. Nun erhält dieser schillernde Fussballgott, was Suffkopf Best schon hat und Kokskopf Maradona wohl demnächst von Emir Kusturica bekommen wird: ein filmisches Denkmal. Ein kleines zwar nur und eines, das nicht wirklich von seiner Biografie geschmückt wird, eines jedoch, das mit viel Liebe und geradezu netzerschem Schalk eine fabel- und märchenhafte Geschichte erzählt, die auf fantasievolle Weise dem grossen Blonden huldigt.

Zum Leben erweckt

«Aus der Tiefe des Raumes» von Gil Mehmert ist quasi die verrückte, verquere, verspielte Schöpfungsgeschichte Netzers – das Buch Günter sozusagen. In gemächlichem Tempo und mit formaler Finesse geschildert wird sie aus der Perspektive des schüchternen Autolackierers Hans Günter (Arndt Schwering-Sohnrey). Dessen Leidenschaft ist das Tischfussballspiel Tippkick – ein Spiel also, das «Geschicklichkeit mit Konzentration paart und gleichzeitig ein Stück weit ein Bild vom Leben gibt», wie ein von nicht minder feurigem Enthusiasmus getriebener Spielgefährte Hans Günters einer leicht irritierten Reporterin in den Block diktiert. Ein Spiel aber auch, dessen Blütephase ebenso vorbei ist wie jene der typischen «Zehner» à la Netzer. Man findet sich hier denn auch in einer Zeit wieder, in der sich das Kind im Manne noch nicht vor dem Computer austobte und in der Fussballdeutschland noch eine blühende Landschaft war. Ziel fast aller Lebensanstrengungen Hans Günters ist die westdeutsche Tippkick-Meisterschaft, und daselbst zum Titel kicken soll ihn seine gehätschelte und getätschelte Spielfigur mit der aufgemalten Nummer 10. Ungünstigerweise erfährt der metallene Tippkicker eines Nachts jedoch eine folgenschwere Mutation und steht plötzlich lebensgross und lebensecht, wenn auch ein wenig hüftsteif und maulfaul vor seinem verdutzten Besitzer: Hans Günter jr. ist geboren, hervorgegangen aus der Tiefe des Raumes und gesegnet mit dem fussballtechnischen Rüstzeug eines götterhaften Edelkickers. Folgerichtig sitzt Junior auch bald schon im Bus zum Trainingslager der niederrheinischen Bezirksauswahl, wo sein Vorname von Teamkollege Hans-Hubert, genannt Berti, zu Günter verkürzt wird und er schliesslich zufälligerweise den Zunamen Netzer erhält.

Tor des Monats

Mit der Eleganz und Präzision eines 50-Meter-Passes aus Netzers Fussgelenk entwickelt Mehmert hier eine überaus amüsante Fussballfabel; über die kompletten fast 90 Minuten erhält er dabei den Spielfluss aufrecht, leistet sich auch in der geschickt eingeflochtenen Liebesgeschichte um Hans Günter sr. und die Fotografin Marion (Mira Bartuschek) kaum einen Fehlpass und jongliert insbesondere nach dem Pausentee filigran mit deutschen Fussballmythen. Der Lacher der Untertanen von König Fussball gewiss sein darf sich Mehmert etwa, wenn besagter Berti (gemeint ist natürlich der so uncharmismatische spätere DFB-Teamchef Berti Vogts) von seinem Trainer als Aufpasser beim mannschaftlichen Discobesuch eingesetzt wird. Oder wenn sein naiver Netzer ohne böse Absicht aus dem Trainingsquartier ausbüchst und den Mannschaftsbus verpasst. «Aus der Tiefe des Raumes» ist gerade auch dank solcher Szenen ein kleines, aber funkelndes Juwel unabhängigen deutschen Kinoschaffens. Ein sehenswerter Treffer ist Mehmert hier geglückt – ein ernst zu nehmender Kandidat für das «Tor des Monats» gar.