von Sandro Danilo Spadini
Schon ab der ersten Einstellung weht der eisige Hauch der Geschichte durch Paul Greengrass’ «United 93». Denn das Wissen um das, was folgen wird, ist lähmend, erdrückend: Es sind dies die letzten Stunden der Welt, wie wir sie
kannten. Bevor sie stillstand. Bevor sie eine andere wurde. 11. September 2001: Ein arabischstämmiger Mann betet in einem Hotelzimmer. Der Kollege mahnt zum Aufbruch. Ziel ist der Newark
International Airport in New York. Dort warten bereits die ersten Passagiere des United-Airlines-Flugs 93. Dessen Crew erscheint zur Arbeit. Es wird telefoniert, geplaudert, gegähnt. Ein normaler
Tag. So auch in der Kommandozentrale in Virginia. Hier wird über Verspätungen diskutiert. Business as usual. In der militärischen Verteidigungszentrale im Norden New Yorks steht derweil eine
Routineübung an. Nichts Besonderes. All dies und überhaupt alles wird sich ändern. Bald. Wir wissen das. Die alltägliche Geschäftigkeit wird in hektische Betriebsamkeit umschwenken. In Panik. In
Ungläubigkeit. In Ratlosigkeit. Schliesslich in Entsetzen. In nacktes Entsetzen. Ein erstes Flugzeug antwortet auf die Funksprüche nicht. Minuten später verschwindet es vom Radar. Und dann steigt
Rauch vom Nordturm des World Trade Center auf. Noch ist das Ausmass der Katastrophe unklar, undenkbar. Ein zweites Flugzeug löst sich scheinbar in Luft auf. Taucht mitten über Manhattan wieder
auf. Prallt vor den Augen der Fluglotsen in den Südturm des WTC. Jetzt herrscht Gewissheit: Amerika ist im Krieg. Die dritte entführte Maschine rast ins Pentagon. Die verspätet gestartete United
93 ist da noch in der Luft. Die Terroristen werden sich ihrer in Kürze bemächtigen.
Ohne falsches Pathos
Über vier Jahre brauchte es, bis sich Hollywood der Ereignisse des 11. September anzunehmen wagte. Nun ist indes die Zeit reif für eine umfassende filmische Aufarbeitung des Tages null. Gerade
eben hat Oliver Stone in Cannes die ersten 20 Minuten seines 9/11-Films «World Trade Center» gezeigt, in welchem er die Tragödie aus der Sicht zweier Polizisten schildert und deren Rettung aus
den Trümmern am Ground Zero zeigt. Einen ganz anderen Ansatz verfolgt demgegenüber «United 93» des Briten Paul Greengrass («The Bourne Supremacy»). Sich auf Aussagen betroffener Zivilisten und
Militärs sowie auf Interviews mit den während des Flugs telefonisch kontaktierten Hinterbliebenen der Opfer stützend, hat er in fast dokumentarischem Stil eine minutiöse Chronik der Katastrophe
erstellt. Einzelschicksale stehen hier nicht im Zentrum, Hauptfiguren (und Stars) gibt es entsprechend keine. Der Titel seines mit schnellen Schnitten und nervöser Kameraführung die fiebrige
Stimmung jener Stunden authentisch einfangenden Films ist freilich etwas irreführend. Die entführte United-93-Maschine, die das Weisse Haus im Visier hatte, ist über weite Strecken nur einer von
vielen Schauplätzen, an welchen Greengrass das Grauen auf schmerzhafte, aber respektvolle Weise sicht- und vor allem spürbar zu machen sucht. Reisserischer Aufnahmen des unbedarften Präsidenten
bei der Märchenstunde oder grobkörnig-düsterer Filmschnipsel Osama bin Ladens braucht sich das einem förmlich den Atem abschnürende Drama nicht zu bedienen. Auch verzichtet Greengrass
grösstenteils auf dramatische musikalische Untermalung und auf dröhnendes, den Mut der Opfer ins Schwülstige ziehendes Pathos. Selbst das von Präsident Bush später instrumentalisierte «Let’s
roll», mit welchem einer der Passagiere das Kommando zum Überwältigen der Terroristen gab, ist nur im Hintergrund zu vernehmen. Lauter hört man die Gebete der Entführer. Die Gebete der
Entführten. Deren letzte Telefonate mit ihren Liebsten. Die Abschiede. Von den Liebsten. Vom Leben. «Ich liebe dich». Immer wieder dieses für einmal durch Mark und Bein gehende «Ich liebe dich».
Der Rest ist bekannt: United 93 stürzte auf einem Feld ausserhalb von Shanksville, Pennsylvania, ab. Niemand überlebte. Die Welt stand für einen langen Moment still – und wurde eine andere.