von Sandro Danilo Spadini
Es seien nur zehn Minuten gewesen, vor fünf Jahren. Aber es habe alles verändert, sagt Nawelle (Leïla Bekhti). Er sei danach in schwere Depressionen gestürzt, seine Firma sei
pleitegegangen. Nun habe er einfach genug, sagt Grégoire (Gilles Lellouche). Sie habe seit sieben Jahren kaum mehr ihre Wohnung verlassen, was ein Fehler sei. Sie wisse auch nicht, warum sie
nicht darüber hinwegkomme, sagt Sabine (Miou-Miou). Und: «Diese Leute haben kein Herz!» – «Immer sind die anderen schuld!» – «Ich will es verstehen!» Verstehen wollen auch Nassim (Dali
Benssalah), Issa (Birane Ba) und Thomas (Fred Testot); deshalb sind sie hier. Sitzen im Kreis mit Kassiererin Nawelle, die im Supermarkt überfallen wurde, dem Mechaniker Grégoire, der mit seiner
Tochter daheim in die Fänge von Einbrechern geriet, und der pensionierten Fahrlehrerin Sabine, die auf offener Strasse bestohlen und verprügelt wurde. Nassim, Issa und Thomas sind wegen ähnlicher
Verbrechen im Gefängnis, seit Jahren schon. Sie sind gekommen, um den drei Opfern, die auch ihre Opfer sein könnten, zu helfen, über ihr Trauma hinwegzukommen, abzuschliessen und eben: zu
verstehen. Und sie sind gekommen, um Abbitte zu leisten, einen Neuanfang einzuleiten und nicht zuletzt: ebenfalls um zu verstehen – zum einen, was in den Opfern vorgeht, zum anderen, warum
sie tun, was sie tun; warum sie so sind, wie sie sind; und warum sie sich ändern können, wenn sie wollen.
Aus drei verschiedenen Perspektiven
«Restorative Justice» nennt sich diese Praxis des Opfer-Täter-Austauschs, die in Frankreich im Jahr 2014 eingeführt worden ist und auch in zahlreichen anderen westlichen Ländern in
unterschiedlicher Ausprägung praktiziert wird. Und es ist offenkundig, dass Drehbuchautorin und Regisseurin Jeanne Herry viel von dieser Praxis hält. Ja ihr Drama
«Je
verrai toujours vos visages» darf am Ende seiner fast zwei Stunden Spielzeit sogar als Plädoyer gelesen werden für die «justice restorative» (ja, die Franzosen übersetzen solche Fachbegriffe
noch, bravo!). Dass sich Herry auf kluge Weise mit dem Engagement der öffentlichen Institutionen in ihrem Land zu beschäftigen weiss, hat sie schon in ihrem Adaptionsdrama «Pupille» nachgewiesen.
Hier nun geht sie noch mehr in die Tiefe und beleuchtet die Thematik aus drei Perspektiven: neben jener der Täter und der Opfer auch jener der Mediatoren, die die Gesprächsrunde anleiten, von
Leuten wie Michel (Jean-Pierre Darroussin), Fanny (Suliane Brahim) und Judith (Élodie Bouchez), allesamt Quereinsteiger, die in der äusserst effektiven Eröffnungsszene in ihre neue Tätigkeit
eingeführt werden. «Restorative Justice» sei ein Kampfsport, wird ihn da gesagt. Und dass das, was sie den Teilnehmenden anböten, das Gegenteil von dem sei, was diesen von allen anderen angeboten
werde. Die drei sind da noch hinreichend beeindruckt; doch als wir sie mit dem Einsetzen der eigentlichen Handlung ein Jahr später wiedertreffen, sind sie schon ziemlich abgeklärt und
professionell unterwegs, wenn auch nicht abgebrüht und problemresistent. Räuber und Mörder machten ihr nichts aus, sagt Fanny da etwa, aber Vergewaltiger – da schaudere es sie immer noch. Und mit
einem ebensolchen Vergewaltiger hat es nun Judith in ihrem parallel zur Gruppendiskussion erzählten Fall zu tun, dem zweiten und mehr auf die Magengrube zielenden Handlungsstrang von Herrys Film.
Es ist das jener Teil, in dem neben den Chancen der «Restorative Justice» auch auf deren Grenzen fokussiert wird. Im Zentrum steht hier Chloé (Adèle Exarchopoulos), eine Mittzwanzigerin, die als
Kind von ihrem älteren Bruder (Raphaël Quenard) über Jahre sexuell misshandelt wurde. Als er sie kennen gelernt habe, sei sie ein 15-jähriger Pornostar gewesen, sagt ihr heutiger Freund (Pascal
Sangla): eine, die alles mit sich habe machen lassen, ohne dabei Freude oder Lust zu empfinden. Nun aber fühlt Chloé sich bereit, sich ihrem Peiniger zu stellen. Es sei alles lange her, in der
Vergangenheit. Anderthalb Jahrzehnte hat sie den Bruder nicht mehr gesehen, den sie nun also mit seinen Taten konfrontieren will. Wie sie reagieren werde, falls es mit dem Treffen klappen sollte,
fragt Judith sie. Sie wisse es nicht. Vielleicht werde sie erleichtert sein. Vielleicht werde sie nicht mehr schlafen können. Sie wisse es nicht. Als Chloé bei der nächsten Sitzung Judith aber
erzählt, dass sie wieder angefangen habe, sich zu ritzen, da wird es der Mediatorin mulmig zumute, und auch wir fragen uns: Kann das gut gehen?
Filigranes Zusammenspiel der beiden Teile
Mit der Geschichte um Chloé und ihren Bruder setzt Herry einen Kontrapunkt, der nicht nur deshalb hochwillkommen ist, weil hier mit Adèle Exarchopoulos («Les cinq diables») jene Aktrice Präsenz
markiert, die aus dem euphorisch die Gunst der dialogintensiven Stunde nutzenden Ensemble heraussticht – sondern auch, weil es in der Runde mit Sabine, Issa und Co. trotz gelegentlicher
emotionaler Eruptionen bisweilen ein bisschen zu harmonisch zu- und hergeht. Zwar gibt es auch dort immer wieder feine Beobachtungen – etwa wenn sich Sabine und Nawelle im Vorlauf die triviale
Frage stellen, was sie beim Treffen wohl anziehen sollen; und es mangelt auch nicht an rührenden Momenten wie jenem, als Thomas erklärt, er wolle hier zum ersten Mal in seinem Leben etwas
Positives tun. Aber so zu erschüttern wie die Szenen mit Chloé, in denen sie verkrampft um Nüchternheit bemüht von ihrem Martyrium berichtet, vermögen die Schilderungen der anderen Protagonisten
naturgemäss auch aufgrund der letztlich doch ungleich geringeren Schwere ihrer Seelenlast nicht. Dafür wirkt die Gruppendiskussion weniger akademisch und näher an der Realität, weil die Opfer
ganz gewöhnliche Leute «mitten aus dem Leben» sind, und reicher an Erkenntnis, weil hier eben auch die Täter zu Wort gekommen, während Chloés Bruder nur ganz zum Schluss einen kurzen – dafür umso
fulminanteren – Auftritt hat. Was die grosse Stärke von «Je verrai toujours vos visages» am Ende ausmacht, ist dann aber das Zusammenspiel der beiden Teile, die Herry nahtlos und filigran
ineinander verwoben hat. Im Gegensatz zu der noch ein wenig beeindruckenderen US-Produktion «Mass» von 2021, in der die Eltern eines Opfers eines Schulmassakers die Eltern des Täters treffen, ist
das denn auch kein Kammerspiel und trotz der vielen Dialoge auch nie theatral. Es läuft hier aber derselbe Kampf zwischen Kopf und Herz ab: zwischen dem Bemühen, das alles rational zu fassen, und
dem Bedürfnis, seiner Wut Ausdruck zu verleihen. Die Auflösung ist freilich weit optimistischer, fast eine Erlösung. Und so darf man den Worten, die eine Instruktorin in der Schlussszene zu den
angehenden neuen Mediatoren sagt, vielleicht auch eine gewisse Selbstreflexion von Herry unterstellen: «Man wird ihnen sagen, sie seien naiv.» Aber manchmal tut es halt einfach gut, naiv zu
sein.