Nicht von dieser Welt

Als Ausnahmedirigentin in der Abwärtsspirale fügt Cate Blanchett ihrer schon fulminanten Karriere ein neues Glanzlicht hinzu. Einfach macht es einem Regisseur Todd Field in seinem nüchternen Drama «Tár» zwar nicht. Aber das soll auch so sein.

Cate Blanchett im Film Tár

Focus Features

von Sandro Danilo Spadini

Vielleicht ist es eine Art Test, was Regisseur Todd Field («In the Bedroom», «Little Children») in der Auftaktviertelstunde seines ersten Films seit 16 Jahren veranstaltet. So im Sinne von: Wenn ihr das durchsteht, dann seid ihr bereit für all das Wuchtige und Wichtige, das darauf folgt. Jedenfalls ist es so, dass der 59-jährige Kalifornier hier in recht aufreizender Manier die Länge unseres Geduldsfadens ausmisst, wenn er den Musikkritiker des «New Yorker» auf einer Bühne die fiktive Stardirigentin Lydia Tár (Cate Blanchett) interviewen und die beiden über das Wesen der klassischen Musik und ihrer Interpretation fachsimpeln lässt. Und wirklich knackiger wird es ja auch im Anschluss daran nicht – wenn Tár mit einem linkischen Investmentbanker und Hobbydirigenten (Mark Strong) über Probleme in ihrer gemeinsam betriebenen Stiftung diskutiert und anschliessend in einer Vorlesung am renommierten New Yorker Juilliard-Konservatorium einen Studenten zur Schnecke macht, der Johann Sebastian Bach allein aufgrund der Tatsache ablehnt, dass dieser ein alter weisser Cis-Mann gewesen sei. Ungemein erhellend ist dieser dialogschwere, wortwuchtige, intelligenzbestialische Prolog, mehr als eine halbe Stunde lang, aber gleichwohl. Und das gleich in mehrfacher Hinsicht. So verrät er zum einen bereits sehr viel über die Protagonistin von «Tár»: wie brillant sie ist, wie phänomenal erfolgreich sie ist – eine EGOT-Gewinnerin gar, also eine jener wenigen Personen, die das Quadruple aus Emmy-, Grammy-, Oscar- und Tony-Triumph geschafft haben. Und auch wie gerne sie sich gescheite Sachen sagen hört, mit welcher Selbstverständlichkeit sie sich in der Welt der Privilegierten und Gebildeten bewegt, wie dominant und fordernd sie ist und so gar kein Musikgehör hat für die Befindlichkeiten und Empfindlichkeiten der Millennials, die sie nur Roboter nennt, und wie sie meint, kraft ihres Genies keine Zeit und keine Nerven aufbringen zu müssen für die woken Wehwehchen ihrer aufmüpfigen Studierenden, denen sie rät, nicht begierig danach zu trachten, beleidigt zu sein, und denen sie an Kopf schmettert, der Architekt ihrer Seele seien die sozialen Medien. Zum anderen freilich liefert dieser auf dem Papier so staubtrocken anmutende Einstieg auch bereits das Totschlagargument schlechthin, warum man mit diesem Film unbedingt alle Geduld der Welt haben sollte: eine Performance von Cate Blanchett, die selbst für die zweifache Oscar-Preisträgerin ein einsames Glanzlicht darstellt, eine Karrierebestleistung wohl, die ihr unter normalen Umständen in Kürze ihren dritten Goldmann einbringen wird.  
 
Vielschichtige Figur
 
Blanchett also ist ein Ereignis und die Idealbesetzung für diese komplexe Rolle, für die sie nicht nur Deutsch, sondern auch das Klavierspiel und das Dirigieren gelernt hat. Sie ist auch der Hauptgrund dafür, dass das doch recht gewagte Unterfangen von Regisseur und Neo-Drehbuchautor Todd Field am Ende so prächtig aufgeht – oder um es mit einem vollkommen unpassenden Vergleich zu sagen: Blanchett ist hier so dominant und matchentscheidend, wie es Diego Armando Maradona im argentinischen Weltmeisterteam von 1986 war. Aber die Australierin findet in dem sechsfach und in allen wichtigen Kategorien Oscar-nominierten Film auch Rahmenbedingungen vor, die einen zu einer solchen Höchstleistung animieren können. So ist ihre Figur eben auch differenziert und vielschichtig geschrieben: die kurz vor einer Buchveröffentlichung und einer Konzertaufnahme stehende Meisterin in der Blüte ihres Schaffens, die ihre prominente Position als Chefdirigentin eines deutschen Orchesters nutzt, um die damit einhergehende Macht in vollen gierigen Zügen auszukosten – mittels Zementierung des Gefälles, über Spielchen und endlich auch durch Missbrauch. Nur wie weit eben gerade Letzterer geht – ob die Vorwürfe der sexuellen Ausbeutung, die eine ehemalige Musikerin gegen Tár erhebt, bevor sie sich das Leben nimmt, so auch wirklich stimmen: Das lässt das Drehbuch offen. Zwar wird mehr als nur angedeutet, dass Frau «Maestro», wie sie allenthalben genannt wird, wohl immer wieder aussereheliche Beziehungen mit Mitgliedern des Orchesters unterhält; das zumindest implizieren die Begeisterung, die sie der neuen russischen Cellistin Olga (Sophie Kauer) angedeihen lässt, und die kritischen Blicke, die sie dafür von ihrer Ehefrau und Konzertmeisterin Sharon (Nina Hoss) und der treu ergebenen Assistentin und Möchtegerndirigentin Francesca (Noémie Merlant) erntet. Doch dass sie Olga dann auch tatsächlich direkte Avancen macht und sich ihr gegenüber grob ungebührlich verhält: Darauf verzichtet Field, der nicht daran denkt, aus dem Graubereich herauszutreten.  
 
Fast wie eine Dokumentation
 
Es ist eine harsche neue Wirklichkeit, die Field hier schildert. Eine Welt, in der niemand vergisst. Niemand verzeiht. Niemand zu verstehen versucht. Weil jeder zu wissen glaubt, was stimmt. Was recht ist. Was wichtig ist. Die Welt von Lydia Tár ist das nicht. Sie lebt in der Vergangenheit. Lässt diese aufblühen, indem sie den alten Meistern wie Mahler und immer wieder ihrem Mentor Leonard («Lenny»!) Bernstein huldigt, sie hochleben lässt, ihnen nacheifert. Da kann einem schon mal die Bodenhaftung abhandenkommen. Der Bezug zur Realität. Das Gespür für den Zeitgeist. Sie glaubt denn erst auch, dass sie sich in ihrer vorzüglichen Stellung und angesichts der sie anhimmelnden Gefolgschaft nicht mit diesen Vorwürfen zu beschäftigen brauche – dass es ihr Privileg sei, das einfach beiseitezuschieben, wegzuwischen. Und das macht es uns dann einfacher, es ein bisschen zu geniessen, wenn die Abwärtsspirale zu drehen beginnt und sie aus dem Olymp katapultiert wird – wenn sie bald die Contenance und Souveränität und endlich doch noch den Verstand verliert. Andererseits sind wir durchaus auf ihrer Seite und folgen ihrer Argumentation, wenn sie über die Cancel-Culture spottet und für die heute immer öfter infrage gestellte Trennung zwischen Werk und Autor eintritt. Denn sie tut das mit einem messerscharfen Verstand und aus der Warte einer Ausnahmekünstlerin, die zwar eine Perfektionistin und eine Besessene ist, aber nicht in dem Ausmass, dass es psychotisch würde, und mithin nicht in der Art des verschrobenen Genies, sondern mehr als eine sehr moderne Mischung aus Managerin und Rockstar. Da ist Tár dann eben doch ganz Realistin, mit beiden Füssen auf dem Boden. So wie das auch der sehr kultivierte, aber nie prätentiöse 158-minütige Film ist, der bisweilen anmutet wie eine Dokumentation, so nüchtern ist er unterwegs, so trocken ist der Humor, so zurückhaltend ist das inszeniert inmitten eines wohl stets eleganten, aber auch reichlich unterkühlten Settings mit all den noblen Restaurants, den edlen Sälen, den funktionalen Büros oder dem erschlagenden Berliner Apartment, in dem Tár mit Frau und Tochter lebt. Field erweist sich dabei wie schon in seinen beiden anderen mehrfach Oscar-nominierten Werken als ein stiller und genauer Beobachter, den die ganz grossen Fragen umtreiben und der die Dinge sich in Ruhe, in grosser Ruhe entwickeln lässt. Und der es in Kauf nimmt, sein Publikum damit auch mal zu frustrieren, und es auf das Crescendo warten lässt. Und warten lässt. Und warten lässt. Und es obendrein dann auch noch mit offenen Fragen zurücklässt. Ob Tár das getan hat, was ihr vorgeworfen wird, ist für ihn denn auch nicht entscheidend. Um das geht es hier nicht, so profan ist das nicht. Es geht auch nicht um die Mechanismen der Cancel-Culture; dafür ist dann gerade der Schluss viel zu ambivalent und mehrdeutig: Was man da alles reininterpretieren kann, ist eine wahre und seltene Freude! Nein, Field bohrt tiefer. Immer tiefer. Und wenn er dort angekommen ist, wo er sein möchte, verpasst er, der Wartende und Zurückhaltende, einem ein, zwei gezielte Schläge in die Magengrube, die sitzen und die jeden Zweifel daran vertreiben, ob sich das alles wirklich gelohnt hat.