Den Boden unter den Füssen weggezogen

Sandra Bullock und George Clooney schweben im Weltraum-Thriller «Gravity» in Lebensgefahr. Wir dürfen derweil die kristallklare Aussicht geniessen – in 3-D.

 

von Sandro Danilo Spadini

600 Kilometer über der Erde mag es keinen Schall, keinen Luftdruck und keinen Sauerstoff geben, wie uns Alfonso Cuaróns «Gravity» vorneweg pflichtbewusst informiert. Schön ists dort oben aber trotzdem. «Die Aussicht ist unschlagbar», findet jedenfalls auch der Weltraumveteran Matt Kowalski (George Clooney). Und zwar selbst dann noch, als die Lage für ihn und die Nasa-Ingenieurin Ryan Stone (Sandra Bullock) zunehmend aussichtsloser wird. Der Kontakt mit Houston ist da schon abgerissen, die Mission längst abgebrochen. Trümmer eines zerstörten russischen Satelliten schiessen nun in ihre Richtung, töten den Rest der Crew und zerstören die Raumstation. Matt und Ryan, die Novizin im All, sind nun alleine hier draussen, und «das kann eine Scheissangst machen», tönt George Clooneys sonore Stimme zur Beruhigung. Er übernimmt nun das Kommando, obwohl sie ja das «Genie» sei und er bloss der «Busfahrer». In Schlepptau hat er sie genommen und weist den Weg in die mögliche Rettung. Und da hängt sie nun mit schwindenden Sauerstoffreserven wie an einer Nabelschnur und schwebt mit ihrem letzten verbliebenen Gefährten in Lebensgefahr durchs All – bis auch dieser Faden reisst.

Bei den Grössten

Die Ouvertüre von «Gravity» ist ein einzigartiges Kinoerlebnis – sie ist quasi Kino von einem anderen Stern. Kristallklar sind die Bilder, und Cuaróns Technik ist von einer Brillanz, die noch kommende Generationen bestaunen werden. Als bester Weltraum-Streifen der Filmgeschichte wird «Gravity» bereits von manchen gefeiert. Und sie haben Stanley Kubrick dabei nicht eben mal vergessen. In der Tat spricht wenig dagegen, dass sich Cuarón mit seinem Bijou einen Platz da oben bei «2001: A Space Odyssey» wird sicher können. Denn der Mexikaner, der nach sieben Jahren Drehpause auf den Regiestuhl zurückgekehrt ist, erweist sich in seinem erst sechsten Spielfilm abermals als Visionär vor dem Herrn. Was er mit «Y tu mamá tambien», «Harry Potter and the Prisoner of Azkaban» oder zuletzt mit «Children of Men» geschaffen hat, nimmt sich im Vergleich freilich wie Fingerübungen aus. «Gravity» ist von anderem Kaliber, wobei auch die 3-D-Technik ihren Anteil am möglichen, nein wahrscheinlichen Eintrag in die Filmgeschichtsbücher hat. Selten hat sie so effizient dem grossen Ganzen gedient und dieses zum ganz Grossen gemacht. Wenn einem da der Weltraumschrott um die Ohren fliegt und man sich Mal um Mal duckt, hat Cuarón, der einst Astronaut werden wollte, sein Ziel erreicht: Man ist jetzt wirklich mittendrin in dieser Situation, die bald ungeheuer beängstigend, bald berückend unbeschwert ist. Umso mehr noch, als uns der Regiemeister immer wieder zu Sandra Bullock in den Raumanzug steckt und uns deren Ego-Perspektive einnehmen lässt. So lässt Cuarón letztlich auch uns seinen Kindheitstraum ausleben; und diese Aufdringlichkeit lassen wir uns gerne gefallen.

Im Wechselbad der Gefühle

Zwischen Todesfurcht und Sinnessturm, zwischen Verzweiflung und Offenbarung, konfrontiert mit der eigenen Endlichkeit und der schöpferischen Unendlichkeit, benommen von der Aussicht und betäubt von den Aussichten, von kühl über heiter zu betrübt: Kongenial begleitet wird dieses Wechselbad der Gefühle vom Soundtrack von Steven Price. Da läuft unten in Houston und auf Matts Kopfhörer gemütliche Countrymusik, wenn alles noch nicht so arg scheint; da brummt und flirrt es, wenn die Katastrophe hereinbricht; da wehklagt es, wenn alles verloren scheint; da triumphiert es, wenn die Hoffnung zurückkehrt. Und dann gibt es Momente der absoluten Stille. In diesen ist das wieder sehr kammerspielhaft – wiewohl der Schauplatz, der für keinerlei Rückblenden «nach Hause» je verlassen wird, natürlich alles andere als hermetisch abgeriegelt ist. In der zweiten Hälfte werden solche Momente zusehends rarer. Hier nun dominiert die – ebenfalls fesselnde – Action, und je näher es dem Ende entgegengeht, tritt auch das Sentimentale in den Vordergrund. Das berührt dann einmal mehr und einmal weniger. Aber das vermag nichts daran zu ändern, dass man sich nach den 90 Minuten von «Gravity» so fühlt wie Ryan: «wie ein Chihuahua in der Wäschetrommel».