von Sandro Danilo Spadini
Wenn der Vater mit dem Sohne in US-Filmen eine Reise tut, dann ist der Weg recht klar vorgespurt. Zumal wenn sich der Vater nach der Scheidung kopfüber in die Arbeit gestürzt hat und der Sohn
sich zu Recht vernachlässigt fühlt. Wenn der Vater nun just am Nullpunkt angelangt ist und der Sohn auf ein gemeinsames Interesse pocht, dann weiss man erst recht, was noch passieren wird. In Jon
Favreaus «Chef» indes geschieht nichts davon.
Oder fast nichts. Und wenn doch, dann auf eine echte, frische, ehrliche Art. Auf eine Art somit, die bestens den dritten Hauptdarsteller dieser Entwicklungsgeschichte beschreibt: das Essen.
Ein Herzensprojekt
Der Vater nämlich, Carl Casper (Favreau), ist ein genial wahnsinniger Chef de Cuisine. Vor zehn Jahren galt er in Miami als «das nächste grosse Ding»: eine authentische, mutige Stimme in der
Kulinarikszene, wie ein Kritiker meinte. In Los Angeles hat er nun einen Boss (Dustin Hoffman), der nichts von seiner «prätentiösen Scheisse» wissen will und von ihm verlangt, er solle seine
«Hits spielen». Dies selbst dann, wenn besagter Kritiker (Oliver Platt) sich die Ehre gibt. «Chef Carl» fügt sich dann halt, und was folgt, ist ein vernichtender Verriss, ein Kleinkrieg auf
Twitter, Krach mit dem Boss, ein Ausrastervideo auf Youtube, die Entlassung und die Wahl, entweder in einer Realityshow mitzuwirken oder im Food-Truck durch die Gegend zu tingeln. Man würde jetzt
meinen, Carl sei niedergeschmettert – griffe zur Flasche, zertrümmere die Küche, überwerfe sich auch noch mit den Arbeitskollegen (John Leguizamo, Bobby Cannavale, Scarlett Johansson) und sowieso
mit der Ex-Frau (Sofia Vergara). Aber auch hier folgt nicht das Erwartete. Denn Carl ist trotz nicht zu leugnender (Midlife-) Krise einfach nicht der Typ für ein solches Standardrepertoire. Und
Jon Favreau eben auch nicht. Er zeichnet hier nebst Hauptrolle und Regie – getreu dem Motto mit den vielen Köchen und dem Brei – auch als Drehbuchautor und Produzent verantwortlich; und wer sich
derart ins Zeug legt, ist mit Herzblut dabei und nicht routiniert auf den schnellen Reibach aus. Es ist mithin ein anderes Wirken als bei seinen beiden «Iron Man»-Filmen, die hier insofern
nachhallen, als sich auch Robert Downey Jr. noch für eine kleine feine Szene blicken lässt. Er reiht sich in eine Riege von Figuren ein, denen eines gemein ist: Sie tun und sagen gerne mal das
Falsche, handeln und reden meist schneller, als sie denken. Aber ein übler Typ ist trotzdem keiner von ihnen – nicht mal der Kritiker! Und bei ihrer Besetzung beweist Favreau ein so goldenes
Händchen wie Carl bei der Auswahl der erlesenen Zutaten.
Ein offener Wunsch
Das Essen ist hier – in zahllosen köstlichen Grossaufnahmen – tatsächlich allgegenwärtig. «Food Porn» nennt der Amerikaner so was mit dem ihm eigenen Pep. Oder um es weniger schnöde zu sagen:
Moderne Kunstwerke sind das. Und zwar nicht nur diejenigen, die im ersten Gang im Gourmetlokal auf den Teller kommen. Sondern fast mehr noch auch das, was aus dem ab Filmmitte endlich tuckernden
Food-Truck gereicht wird. Mit ihm unternehmen Carl und Sohnemann Percy (Emjay Anthony) im zweiten Gang dann also ihre Reise. Es ist eine farbenfrohe kulinarische Tour durch den Süden Amerikas:
von Miami über New Orleans und Austin zurück nach L.A. «Siehst du mich in einem Food-Truck?», hatte Carl zunächst noch gefragt. Doch als er mit Percys pfiffiger Hilfe seine ersten «Cubanitos»
verkauft hat, findet «El Jefe», dieser wieder freie und entfesselte Küchenberserker, nur noch: «So happy, so happy.» Sind wir übrigens auch, danke. Denn es mag hier zwar alles hip und
sozialmedial-zeitgeistig daherkommen und bisweilen ziemlich schnell zugehen – beim Reden, beim Kochen, bei den ständigen Latinorhythmen; gleichwohl ist «Chef» mit seinem scheinbar ziellosen
Sinnieren über Freiheit und Freundschaft, familiäre Verantwortung und berufliche Selbstverwirklichung aber das filmische Äquivalent zu Slow Food. Seelenfutter, das den Appetit anregt, die
Lachmuskeln reizt, die Herzen rührt. Wohlfühlig, aber nicht denkfaul. Süss mitunter, aber nie klebrig. Eine Frage – oder besser: ein Wunsch – bleibt dann freilich doch noch offen: Wo, bitte,
bitte, kriegen wir so ein kubanisches Sandwich her?