von Sandro Danilo Spadini
Fassen wir das mal kurz zusammen. In den ersten fünf Minuten von Damien Chazelles Drittling
«Babylon» hatten wir also bereits dies: einen Elefanten, der auf eine tapfere Hilfskraft defäkiert, ein zugedröhntes Starlet, das
auf einen geilen Fettwanst uriniert, und einen Gummipenis, der in die tollwütige Menge ejakuliert. So, und jetzt haben wir noch drei Stunden dieser exzessiven Extravaganz vor uns – drei
Stunden voller Dekadenz und Opulenz, voller Perversion und Degeneration, voller Sodom und Gomorrha und voller Hollywood, wie es einst, vor langer, langer Zeit, leibte, lebte und lümmelte. Es ist
das Jahr 1926, in das wir mit einem ohrenbetäubenden, sinnesvernebelnden, verstandserschütternden Klatsch hineingeworfen werden: Ein heftiges Beben kündet sich an, ein gewaltiger Umbruch in der
Filmindustrie steht bevor – das Ende der Stummfilm-Ära naht. Für viele wird das schmerzhaft werden, für einige sogar tödlich enden. Doch noch ahnen sie hier oben nicht, dass die Party bald vorbei
ist, wissen sie nicht, dass ihr Ruhm nur geliehen und ihr Kredit im Olymp fast aufgebraucht ist, und feiern und saufen und schnupfen und vögeln, als ob es kein Morgen gäbe. Auf einem verlassenen
Hügel in der Wüste von Bel Air geht in der Märchenvilla eines Hollywood-Produzenten alles ab, was Gott verboten hat, und dann noch manches mehr, an das Gott gar nie gedacht hat. Morphium, Opium,
Äther, Heroin, Kokain – es ist alles da, was das Lasterherz begehrt, und zwar à discrétion. Champagner in Strömen, Absinth und Gin und Whiskey in rauen Mengen, dazu entfesselte Musik,
willige Lustdienerinnen und, ja eben, ein Elefant. Und mittendrin in diesem babylonischen Sündenpfuhl, diesem orgiastischen Chaos, diesem ekstatischen Rausch, dieser bedingungslosen,
besinnungslosen Völlerei: eine sich magistral an nackten Leibern, zuckenden Gestalten, kopulierenden Körpern, frenetischen Figuren vorbeischlängelnde Kamera, die das alles für uns hautnah in
goldstichige Bilder fasst, die uns grad auch benommen machen, grad auch besoffen machen von diesem Wahnwitz.
Der magischste Ort auf der Welt
Gegenüber dem, was Chazelle hier veranstaltet, war das Treiben bei Scorsese in «The Wolf of Wall Street» das reinste Handarbeitslehrerinnen-Teekränzchen im Kirchgemeindehaus. Aber okay: Wenn nach
einunddreissigeinhalb Minuten doch noch der Filmtitel aufscheint, beruhigen sich die Dinge ein wenig – man möchte sein Publikum ja nicht um den Verstand oder ins Koma oder ins Delirium oder gar
ins Grab filmen. Aber aufgekokst hyperventilierend bleibt es natürlich auch dann, wenn der Tross weiterzieht und nunmehr Schabernack und Schindluder an katastrophal konfusen, von überdrehten,
abgespannten, abgelöschten, überforderten Gesellen bevölkerten Filmsets treibt – dem «magischsten Ort der Welt», wie es einmal heisst, ein Ort auch, wo noch Verrückte das lautstarke,
schandmäulige Kommando haben. Die Protagonisten in diesem Sittengemälde im Weltformat haben sich da indes schon längst herausgeschält: der bodenständige mexikanische Immigrant Manuel «Manny»
Torres (Diego Calva), der es dank seiner dienstfertigen Beflissenheit noch weit bringen wird im Business; die schnodderig impulsive Nachwuchsaktrice Nellie LaRoy (Margot Robbie), die von der
Unterschicht in New Jersey aus in die Oberklasse von Hollywood vorpreschen will; der Schauspielgott Jack Conrad (Brad Pitt), der dem Wein gar noch etwas mehr zugeneigt ist als dem Weib und beides
samt Gesang à gogo konsumiert; und eine Reihe weiter hinten die lesbische chinesische Cabaretsängerin Lady Fay Zhu (Li Jun li), der schwarze Jazztrompeter Sidney Palmer (Jovan Adepo), die
Klatschkolumnistin Elinor St. John (Jean Smart), zu denen sich später noch der Gangsterboss James McKay (Tobey Maguire) und reale Figuren wie der Filmproduzent Irving Thalberg (Max Minghella)
oder der Medienmogul William Randolph Hearst (Pat Skipper) in kleineren Rollen gesellen werden. Es ist dies mithin die Geschichte jener, die es um jeden Preis schaffen wollen in der Fabrik der
Träume, und der anderen, die jeden Preis einfordern für diese Träume. Oder anders gesagt: ein Film über das, was diese auf ex geträumten (Alb)träume kosten, und das, womit sie bezahlt werden
– nämlich indem Menschen wie Mannie, Nellie oder Sidney ihrer Unschuld und Würde beraubt, ausgehöhlt und zurechtgebogen werden, die Seele endlich in Trümmern, das Herz in Stücke gerissen.
Aber das kommt später. Einstweilen geht das Gelage noch etwas weiter. Erst als Mannie konstatiert, dass sich nun alles ändern werde, und die «Talkies» auf Kosten des Stummfilms ihren
flurbereinigenden Siegeszug antreten, ändert sich der Ton markant. Ernüchterung macht sich zwar noch nicht gerade breit, aber doch so etwas wie Nüchternheit. Es gibt nun, nachdem das alles immer
ein bisschen allzu leichtfertig und gedankenlos gewirkt hat, auch Raum für Emotionen, die nicht von Rauschmitteln herrühren, und nach und nach spürt so manche und mancher doch noch den Kater nach
dem barbarischen Bacchanal, wird sich der Vergänglichkeit des Ruhms und der Gnadenlosigkeit des Geschäfts gewahr, erkennt eine Welt der Heuchelei und Scheinheiligkeit, sieht die weitum wütende
zerstörerische Kraft von Ambition und Eitelkeit, die vollständige Absenz von Anstand und Loyalität, realisiert all die Demütigungen und all die Entwürdigungen, die Selbstverleugnung und die
Selbstaufgabe. Und trotz alledem klammern sie sich noch immer und kaum angeekelt an dieses geborgte Glück, versuchen es um ein paar geklaute Momente zu strecken, versuchen zu verdrängen, dass sie
am Ende des Traums angelangt sind und die verheissene Ewigkeit eine Illusion war.
Göttliche Robbie, grandioser Pitt
Man muss schon sehr weit zurückblättern, um auf einen Regisseur zu stossen, der mit einer ähnlichen Wahnsinnstat seine noch junge und doch so verheissungsvolle Karriere aufs Spiel gesetzt hat
– vermutlich bis ins Jahr 1980 zu Michael Cimino und «Heaven’s Gate», einem der übelsten Flops der Kinogeschichte, der mit 219 Minuten Spielzeit sogar noch eine halbe Stunde länger war als
«Babylon». Dass Chazelle hier konsequent seine Vision verwirklicht und Kopf und Kragen riskiert, wurde ihm freilich ebenso wenig verdankt wie unlängst Kollege Andrew Dominik, mit dessen
heldenhaft genialischer Marilyn-Monroe-Collage «Blonde» sein «Babylon» den düsteren Blick auf Hollywood teilt. Umgekehrt ist das wilde Treiben hier auch öfters zum Schreien komisch, zum Schiessen
crazy, zum Schmachten sexy und damit dann auch wieder recht nahe bei Paul Thomas Andersons filmaffinem Prachtstück «Licorice Pizza» oder bei Quentin Tarantinos Meisterwerk «Once Upon a Time… in
Hollywood», das ebenfalls einen Wendepunkt in der Filmindustrie beschrieben hat. Mit Letzterem ist Chazelles Film zudem über Brad Pitt und Margot Robbie verknüpft, seine zwei prominentesten und
spektakulärsten Stars, die nicht nur über Talent zum Verschwenden verfügen, sondern wie die Helden und Göttinnen jener Zeit auch über Charisma im Überfluss. Dass Robbie – anders als
hochverdientermassen der Soundtrack, das Kostüm- und das Produktionsdesign – nicht für den Oscar nominiert wurde, soll da mal jemand schlüssig erklären. Es wird wohl mit der allgemeinen
Antipathie zu tun haben, die «Babylon» von jenen entgegenbrandet, die immer so ernst und korrekt sind und diese Ernsthaftigkeit und Korrektheit auch von allen anderen zu jeder Zeit humor- und
kompromisslos einfordern. Als Zynismus etwa wird es Chazelle ausgelegt, dass er trotz all der geschilderten Schweinereien nicht mit Abscheu auf das Hollywood von ehedem blickt, sondern mehr mit
staunender Faszination, ja letztlich sogar mit Liebe für diese Scheinwelt und ihre Sterne, die strahlenden wie die verglühenden. Dass er dabei bisweilen Stil über Substanz stellt? Na und. Dieses
Fest der Sinne hat so viel von Ersterem, dass der Stil quasi zur Substanz gereicht. Und schliesslich noch die Frage, ob das historisch denn akkurat sei. Wer weiss? Wen kümmerts? Das ist keine
Geschichtslektion hier, das müsste doch eigentlich klar sein. Eine rauschende Ausschweifung ist das. Eine frivole Übertreibung. Masslos. Schamlos. Zügellos. Schrankenlos. Und eine heillose
Überforderung – zumal für die Zartmütigen und Moralinsauren. Es ist aber vor allem auch etwas, was man gesehen haben muss, um es zu glauben. Oder wie es einer im Schlussakt sagt: «Vertrauen
Sie mir, das werden Sie nie vergessen.» Und just darauf haben ja auch die Nellies und Jacks dieser untergegangenen Welt ihr Leben verwettet. Am Ende wurden sie zwar zermalmt. Aber sie waren da.
Haben ihre Spuren hinterlassen. Und ob sie nun im Himmel versauern oder in der Hölle weiterhin die Sau rauslassen – auf der Leinwand bleiben sie unsterblich.