Geboren am 4. Juli in Bern

Eingebettet in ein Familiendrama, setzt Regisseur Sönke Wortmann mit «Das Wunder von Bern» den deutschen Fussballweltmeistern von 1954 ein wunderschönes und ergreifendes Denkmal

 

von Sandro Danilo Spadini

«Aus! Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister!» Als der rührige Radioreporter Herbert Zimmermann diese Worte am 4. Juli 1954 im weiten Rund des Berner Wankdorfstadions erschallen liess, war soeben weit mehr als nur ein Stück Fussballgeschichte geschrieben worden. Deutschland, noch immer ausgezehrt vom Krieg und geächtet in der ganzen Welt, war wieder wer, durfte wieder stolz sein. Das Selbstvertrauen war wiederhergestellt, das Wirtschaftswunder konnte kommen. Nicht wenige Sozialhistoriker glauben in jenem 4. Juli gar die eigentliche Geburtsstunde der BRD zu erkennen. Das goldene Tor von Helmut Rahn, dem «Boss», in der 86. Minute gegen das hoch favorisierte ungarische Wunderteam um Puskas, Hidegkuti und Kocsis hatte die Deutschen gleichsam wieder zu einem Volk gemacht.

Viel Herzblut

Für Regisseur Sönke Wortmann («Der bewegte Mann»), der einst selbst ein ganz passabler Fussballer war, ist «Das Wunder von Bern» nicht irgendein Film. Wie viel Herzblut in diesem Projekt steckt, ist denn auch in jeder Einstellung zu spüren. Das Risiko, das er mit dieser filmischen Auseinandersetzung mit einem der wundersamsten und strahlendsten Kapitel deutscher (Fussball-)Geschichte einging, war freilich ein beträchtliches, zumal es noch kaum jemand fertig gebracht hatte, einen ordentlichen Film über die wichtigste Nebensache der Welt zu drehen. Im Zentrum der im Arbeitermilieu des Ruhrgebiets angesiedelten Geschichte steht der 12-jährige Matthias Lubanski, ein heissblütiger Fan von Rot-Weiss Essen und dessen Star Helmut Rahn, dem er immerhin die Sporttasche schleppen darf. Matthias’ Welt ist der Ball. Daran kann auch die mit verheerenden Konflikten verbundene Rückkehr seines Vaters aus 12-jähriger sowjetischer Kriegsgefangenschaft etwas ändern; denn schliesslich steht nicht nur der traumatisierte Vater, sondern auch die Fussballweltmeisterschaft in der Schweiz vor der Tür, und sein Idol und Vaterersatz Rahn hat Gnade unter den Augen des legendären Bundestrainers Sepp Herberger gefunden. Der Rest ist Geschichte: «Aus dem Hintergrund müsste Rahn schiessen. Rahn schiesst! Tor! Tor! Tor! Tor!» Deutschland ist wieder ein Volk, und die Lubanskis sind wieder eine Familie.

Gelungenes Konzept

Mit einer grosszügig dosierten Portion Pathos und in opulenten Bildern beschwört Wortmann das integrative Moment des Fussballs. Von seinen Darstellern, die in die Rollen von Toni Turek, Fritz Walter oder eben Helmut Rahn zu schlüpfen hatten, verlangte Wortmann nicht bloss eine gewisse optische Ähnlichkeit zu den realen Figuren und schauspielerisches Talent, sondern auch das Beherrschen des fussballerischen Einmaleins, um so den – allerdings eher spärlichen – Szenen auf dem Spielfeld ein Mindestmass an Realität zu verleihen. Unter dem Strich ist dieses Konzept aufgegangen: Die grösstenteils unbekannten Darsteller schlagen sich wacker, und auch der Leinwandkick, wenngleich ihm bisweilen etwas die Dynamik abgeht, genügt den Ansprüchen. Dass Wortmann mitunter ins etwas gar Schwelgerische abdriftet, stört keineswegs. Im Gegenteil: Recht so! Schliesslich geht es hier um Fussball. Das ist Emotion pur, das ist Kampf, Schweiss und Tränen, Taumel, Triumph und adrenalingesteuerte Irrationalität, das ist – kurz – die Quintessenz des Lebens, wie uns bereits Camus sinngemäss lehrte. Für alle, die ob derlei Erkenntnissen nur müde den Kopf schütteln können – wie etwa die Frau des Sportjournalisten, die mit ihren spitzen Bemerkungen einen überaus amüsanten und willkommenen Kontrapunkt zu setzen versteht –, mag der diesjährige Gewinner des Publikumspreises von Locarno bloss ein technisch perfekter Film mit sekundärem sporthistorischem Anspruch sein, ein rührendes Familiendrama, eine geschickt verwobene, meisterhaft erzählte deutsche Nachkriegsgeschichte. Jene jedoch, die sich mit Haut und Haaren und auf immer und ewig der Welt des runden Leders verschrieben haben, mögen überdies die Schönheit und Aufrichtigkeit dieser tief ergreifenden, Gänsehaut erzeugenden Liebeserklärung eines Gleichgesinnten an König Fussball erkennen. Helmut Rahn war es nicht mehr vergönnt, an Wortmanns Triumph teilzuhaben. Der «Boss» starb am 13. August nur zwei Tage nach der Weltpremiere von «Das Wunder von Bern».