Es flattern die Nerven und fliegen die Fetzen

Visuell begeisternd, darstellerisch beachtlich, dramaturgisch befriedigend: Der Genfer Jungregisseur Xavier Ruiz legt mit «Verso» einen unschweizerisch spektakulären Copthriller vor.

 

von Sandro Danilo Spadini

Es war mehr als bloss eine Talentprobe, was Regisseur Xavier Ruiz vor bald zehn Jahren mit dem Militärdrama «Neutre» auf die nationalen Leinwände hievte. Was der 39-jährige Genfer wirklich kann, liess sich bis jetzt gleichwohl nicht abschliessend klären. Zu dürftig war die Bewertungsgrundlage, hatte Ruiz im Anschluss an «Neutre» doch filmisch fast alles ausser einem zweiten Spielfilm realisiert. Nach mehreren Dokus, Videoclips und Produktionsengagements folgt nun aber der mit Spannung und zusehends schwindender Geduld erwartete Zweitling. «Verso» heisst dieser, und er ist wiederum ein starkes Stück, das einigermassen quer und jedenfalls mächtig in der beschaulichen helvetischen Kinolandschaft steht: ein harter Copthriller hollywoodschen Zunschnitts und ein psychologlisch profundes Schuld-und-Sühne-Drama nach europäischer Fasson in einem.

Vertrackte Beziehungen

Angesiedelt in Genf, das Ruiz wie einen monströsen US-Sündenpfuhl in Szene setzt, entfaltet «Verso» ein komplexes Geflecht aus Freundschaft, Verrat, Familie, Sex und Drogen. Daran gewirkt wird von kaputten Bullen, jugendlichen Delinquenten und skrupellosen Dealern, namentlich vom Polizisten Alex (Laurent Lucas), seiner entfremdeten Tochter Lou (Chloé Coulloud) und seinem kriminalisierten Ex-Kollegen und -Kumpel Victor (Carlos Leal). Alex, Lou und Victor verkehren in ihrer je eigenen Welt, in ihrem je eigenen Sumpf und auf drei verschiedenen Ebenen des Films, die sich freilich zunehmend überlagern. Bevor Ruiz mit dem Verweben beginnt und damit die eigentliche Handlung initiiert, nimmt er sich jedoch die Zeit, eine Auslegeordnung zu machen. Er nimmt sich vielleicht sogar etwas zu viel Zeit, um zu zeigen, wie Alex sich in seinem stetig brutaler werdenden Job, einer kriselnden Beziehung und dem Bemühen um Annäherung an Lou aufreibt; wie Lou wiederum in die Illegalität abdriftet; und, einiges später, wie der nach 15-jähriger Haft gerade auf freien Fuss gesetzte Victor sich ein neues Leben als Handlager der örtlichen Mafia aufbaut. Es ist folglich schon eine runde halbe Stunde um, wenn man in Erfahrung bringt, dass Alex und Victor einst beste Freunde waren und eine Beziehung haben, die vertrackter nicht sein könnte, ja die gleichsam shakespearesk ist: Alex steht in Victors Schuld, seit dieser ihm als Kind das Leben gerettet hat. Alex war es aber auch, der Victor verpfiff und in den Knast brachte, nachdem dieser im Rausch eine Prostituierte umgebracht hatte. Und Victor hat Alex über Jahre hintergangen, indem er ein Verhältnis mit dessen Ex-Frau (Nicole Max) unterhielt. Wenn Victor nun also wieder auf der Bildfläche erscheint, wird Alex von der Vergangenheit eingeholt, kommen verschlossen gehaltene Gefühle hervor, beginnt ein Drama, eine Tragödie, eine Katastrophe.

Versierter Carlos Leal

Ein ambitiöses Konstrukt ist es, das Ruiz sich da zusammen mit «Neutre»-Drehbuchautor Nicholas Cuthbert aufgebaut hat. Und es ist denn auch gerade die Dramaturgie, die bisweilen Probleme bereitet. Neben den Längen zu Beginn klappt es mit der Verzahnung der Plots und Subplots nicht immer wie gewünscht, was zum einen die Geschichte immer wieder holpern lässt und zum anderen, ungünstiger noch, Geduld und Engagement des Publikums herausfordert. Derweil punktet «Verso» kräftig im visuellen Bereich mit hochprofessioneller Bildsprache und beklemmend melancholischer Atmosphäre sowie einem Produktionsstandard, wie er für hiesiges Filmschaffen geradezu untypisch ist. Auch die versierte Darstellerriege, der mit dem schon filmerfahrenen Rapper Stress ein publicityträchtiger Farbtupfer gegeben wurde, hat Ruiz kundig angeleitet; aus ihr sticht fraglos Sens-Unik-Frontmann Carlos Leal («Snow White») mit einer bald stillen, bald explosiven Performance heraus. In die cineastisch paradiesischen Gefilde von Manuel Flurin Hendrys ähnlich gelagertem Langstrassen-Thriller «Strähl» vermag «Verso» auch mit Leal zwar nicht vorzustossen. Xavier Ruiz hat mit seinem Zweitling jedenfalls aber zweifelsfrei nachgewiesen, was man ohnehin schon vermutet hat: dass er zu den aufregendsten Filmemachern der Schweiz gehört.