Verdammt in alle Abgründigkeit

«The Devil All the Time» ist ein zwar zäher, aber atemverschlagender Thriller über die Sünde und den Wahnsinn im Namen Gottes. Mehr noch freilich ist dieses pechschwarze Sittengemälde ein selten stupender Ensemblefilm.

   Netflix

Von Sandro Danilo Spadini

Es ist ein von Grund auf spezielles Völklein, das da in den Nachkriegsjahren zwischen Coal Creek, West Virginia, und Knockemstiff, Ohio, gehaust hat: gottesfürchtig und teufelshörig zugleich. Eine unheimliche Ansammlung von Verbrämten und Verblendeten, Wirrschädeln und Suffköpfen, Inzestlern und Ausgezuckten, Kerzerlschluckern und Kuttenbrunzern, Schlangenölverkäufern und Wölfen im Schafspelz. Es ist eine traurige Gesellschaft, die ausser Rand und Band geraten und ihres moralischen Kompasses verlustig gegangen ist. Und in der die Autoritäten in bald harschem, bald blumigem Geschwafel ihre eigene Verderbtheit zu verhüllen suchen und schamlos Profit schlagen aus ihrer privilegierten Stellung. Die Verdammten und die vermeintlich Auserwählten – sie stehen hier in einem zementierten verrotteten Abhängigkeitsverhältnis, zumal die armen Tröpfe eh glauben, ihrer Herkunft, ihrer Vergangenheit, ihrem Schicksal nicht entrinnen zu können, und mögen sie noch so viel beten und frömmeln. So wie der draufgängerische Willard Russell (Bill Skarsgård), der von einem Schauerbild aus dem Krieg verfolgt wird und nach der Krebserkrankung seiner Frau (Haley Bennett) endgültig dem Irrsinn anheimfällt. Oder die brave Helen Hatton (Mia Wasikowska), eine stramme Kirchgängerin, die sich einem schwerstgestörten Prediger (Harry Melling) ausliefert. Und sowieso dann Willards und Helens Sprösslinge, Arvin (Tom Holland) und Lenora (Eliza Scanlen), die nach dem Tod ihrer Eltern als «Stiefgeschwister» aufwachsen und im Laufe der Zeit mit dem perversesten Abschaum den Weg und mitunter die Klingen kreuzen werden, der sich zwischen Cold Creek, West Virginia, und Knockemstiff, Ohio, ausfindig machen lässt: einem Serienkiller-Pärchen (Riley Keough und Jason Clarke), einem korrupten Cop (Sebastian Stan) oder einem schmierigen Priester-Unhold (Robert Pattinson).

Verstörend – und fast meisterhaft

Es tummeln sich also eine ganze Menge psychopathischer Gestalten in Antonio Campos’ «The Devil All the Time», diesem opulenten Sittengemälde in biblischen Proportionen. Aufgezogen ist das als eine Parade von Sündern, die endlich ihrer gerechten Strafe zugeführt werden mögen, und eine Revue ihrer teuflischen Missetaten, die sie auch im Namen Gottes an den Schwachen und Wehrlosen verüben und zwischen den Jahren 1957 und 1965 auf ihr Kerbholz laden. Und weil dieses übergrosse Ganze, diese proppenvolle Starparade und Nummernrevue, auch noch nonlinear erzählt wird, ist das nicht nur recht schwere und bisweilen auch reichlich verstörende und abstossende Kost, sondern auch eine ziemlich zähe Sache: ein sündhaftes Missvergnügen sozusagen, das den geduldigen Zuschauer am Ende freilich reich belohnen wird. Denn die einzelnen Teile, sie werden sich nach weit über zwei Stunden Spielzeit schliesslich zusammenfügen; und wiewohl deren Summe kleiner ist, als sie es sein könnte, ist das dann doch mehr als bloss passabel und schrammt nur knapp an der Meisterhaftigkeit vorbei. Für Regisseur Campos ist diese teils träge wirkende Noir-Variation mit ihren plötzlichen Eruptionen von Gewalt und Wahnsinn und den unvermittelten Abstürzen in Ekstase und Abgründe jedenfalls fraglos der nächste Schritt. Und es ist ein gleichsam logischer Schritt für ihn, der schon in der Fernsehserie «The Sinner», in «Simon Killer» – einem Thriller über einen amerikanischen Soziopathen in Paris – und in «Christine» – einem Drama über eine vor laufender Kamera Suizid begehende TV-Moderatorin – tief in die gestörte menschliche Psyche eingetaucht ist und sich als Produzent des Sektendramas «Martha Marcy May Marlene» überdies bereits mit den düsteren Seiten des Glaubens befasst hat. Das Skript zu «The Devil All the Time» hat er mit seinem Bruder Paulo verfasst; adaptiert haben es die Campos-Brothers vom rund zehn Jahre alten gleichnamigen Roman von Donald Ray Pollock. Dieser fungiert hier als lakonischer Erzähler, der einem Coen-Film entliehen scheint, und bringt etwas mehr Struktur ins verworrene Geschehen – was sehr wohl willkommen ist, da Campos mehr daran gelegen ist, ein Gefühl für den Ort, die Zeit und das Pack, das diese bevölkert, zu erzeugen, als die Handlung stringent zu entwickeln.

Monströs viel Talent

Was durch diesen Fokus aufs Atmosphärische entsteht, ist eine Augenweide im Nostalgie-Look. Und ein Ohrenschmaus noch dazu, wenn auf der Tonspur lieblich linde Hits aus den Fünfzigern und Sechzigern mit den Gräueln, die zuweilen auch zelebriert werden, in einen vielleicht nicht bahnbrechenden, aber doch spannungsvollen Kontrast treten. All das indes ist am Ende nichts weiter als Kulisse, die stilgerechte Bühne für ein Ensemble, in dem sich noch mehr junge Hochbegabte austoben als im Kader von Borussia Dortmund – und in dem niemand sein Spiel überreizt und keiner trotz dünner Zeichnung und überlebensgrosser Macken seine Figur zur Karikatur verzwergt. Man muss schon eine schöne Weile stöbern, um in der jüngeren Geschichte auf eine solch geschlossene Glanzleistung zu stossen; jemanden herauszuheben, verbietet sich mithin – aber wenn man es denn unbedingt darauf anlegen wollte, so müsste man wohl «Spider-Man»-Star Tom Holland und definitiv Robert Pattinson noch extra preisen. «The Devil All the Time» ist also ein Film, der monströs viel Talent und Kompetenz auf sich vereinigt: mimisch, inszenatorisch, narrativ, produktionstechnisch. Was ob des Staunens über diese technische und intellektuelle Finesse freilich nicht vergessen gehen sollte: Es ist das auch ein Film, der mit Herz gemacht ist – einem pechschwarzen Herz.