Den Wölfen zum Frass vorgeworfen

In Joe Carnahans knallhartem und extrem packendem Überlebenskampf-Thriller «The Grey» profiliert sich der fast 60-jährige Liam Neeson schon wieder als Actionstar.

 

von Sandro Danilo Spadini

Ein Actionstar ist gemeinhin jemand, der in der Blüte seiner Manneskraft zu seinem Ruhm gelangt ist – und dann in nicht mal so weit fortgeschrittenem Alter in der Versenkung verschwindet; oder sich dank Botox und Stierblut noch knapp an die Leinwand krallen kann; oder aber sich allmählich ins ernstere Fach absetzt. So weit die Typologie. Und dann gibts da noch Liam Neeson. Der im Juni 60-jährig werdende irische Gentleman-Mime hat sich erst kürzlich zum Actionstar emporgeschwungen – das dafür mit Schmackes: Mit «Taken», «The A-Team», «Unknown», den «Titans»-Filmen und «Battleship» hat er in den letzten drei Jahren massig Schmissiges abgedreht und dabei so manchen Silbertaler an der Kinokasse generiert. Und nun also auch noch «The Grey»: ein knallharter Überlebenskampf-Thriller in der von Wölfen beherrschten Wildnis von Alaska.

Vom Regen in die Traufe

Regie führt hier Neesons «A-Team»-Leader Joe Carnahan – ein Mann, der nach seinem bärenstarken Debüt «Narc» einst in aller Munde war und dann nur zwei verhauene Filme brauchte, um fast aus dem Blickfeld zu geraten. Mit seinem Viertling freilich hat sich der 42-jährige Kalifornier die allerbesten Chancen erdreht, abermals in den Rang eines «Hotshots» zu gelangen. Denn «The Grey» ist ein sagenhaft packender Streifen. In seinem Epizentrum steht der lebensüberdrüssige Scharfschütze Ottway (Neeson), dessen seltsamer Job es ist, auf einer Ölförderungseinrichtung in Alaska die Arbeiter vor wilden Tieren zu schützen. Kurz nach Filmstart hält er sich bereits die Flinte in den Mund. Abzudrücken vermag er zwar nicht; doch was er nicht schafft, bringt kurz darauf beinahe der Flieger zustande, der die Belegschaft zurück in die Zivilisation bringen soll: Er stürzt mitten in die Eiswüste ab, nur eine Handvoll Passagiere überlebt. Doch auch sie sind noch nicht über den Berg – mitnichten. Wie sie gleich nach dem Verdauen des ersten Schocks und dem Wiedererlangen ihrer Sinne feststellen müssen, sind sie in einem Wolfrevier gelandet; ihre ohnehin minimen Überlebenschancen haben sich auf einen Schlag in die Magengrube nochmals rapide verringert. Schon nach Sonnenuntergang wird denn auch der Erste aus ihrer Mitte von einem Wolf zerfetzt; und wie in Abzählreim-Manier dünnt sich der streitlustige wackere Trupp von Vierschrötern sodann weiter aus – der so kundigen wie kernigen Führung von Alphamännchen Ottway zum Trotz. Entsprechend darf hier anders als in herkömmlichen Hollywood-Actionreissern das Happy End auch nicht als gottgegeben vorausgesetzt werden. Denn «The Grey» ist eben anders als herkömmliche Hollywood-Actionreisser: Er ist rauer, realistischer, radikaler, rustikaler, robuster, ruppiger, rassiger. Er ist näher am Leben – und näher am Tod. Und er ist einfach um Längen besser.

Auf das Wesentliche reduziert

Dabei ist «The Grey» im Grunde ganz simpel gestrickt: ein Ort, ein Team, ein Ziel. Was er auch ist: extrem effizient. Und obwohl er sich an existenzielle Fragen wagt, bleibt er stets festgefroren auf dem Boden: Es ist hier kein pseudophilosophisches Gebrabbel zu erdulden, kein gefühlsduseliges Geplapper zu erleiden, kein semipsychologisches Geplauder zu ertragen. Stattdessen ist das eine Reduktion auf das Wesentlichste, das Wichtigste, das Nötigste. Joe Carnahan gebührt dabei gleich doppelt Lob: für das schnörkellose Drehbuch, das er gemeinsam mit Ian Mackenzie Jeffers aus dessen Roman «Ghost Walker» destilliert hat; und für die pfeilgerade Inszenierung, bei der er sich anders als noch im so enttäuschenden «Narc»-Nachfolger «Smokin‘ Aces» auf keinerlei Spielchen einlässt. Das heisst indes nicht, dass «The Grey» nichts fürs Auge böte. Im Gegenteil: Bedrohlich und bezaubernd zugleich erscheint die Schneelandschaft. So faszinierend wie furchteinflössend sind die Wölfe. Zutiefst erschütternd, fast zerstörerisch ist die Kraft, ist die Wucht, mit der Carnahan den Absturz in die Wildnis auf die Leinwand zimmert. All das und die Stille und die Kälte und die Weite und die Einsamkeit verleihen «The Grey» eine gleichsam poetische Note: eine schroffe Schönheit, die bald das Blut gefrieren lässt, es bald in Wallung bringt.