von Sandro Danilo Spadini
Man traut ja erst seinen Augen nicht recht: Das hier ist also wirklich kein Horrorthriller, kein Fantasythriller, kein Endzeitthriller, kein Rassismusthriller, kein Feminismusthriller
und auch kein True-Crime-Thriller – sondern tatsächlich schlicht und erfrischend bloss: ein Thriller? So was gibt es noch? Doch, doch, gibt es. Man muss mittlerweile zwar lange suchen; aber
dann und wann hat man das Glück, auf einen solch herrlich altmodischen Film wie
«To Catch a Killer» (aka «Misanthrope») zu stossen, (mit)geschrieben und inszeniert vom argentinischen
Regisseur Damián Szifron und damit jenem Kerl, der sowohl für die erfolgreichste Serie («Los Simuladores») als auch für den erfolgreichsten Film {«Wild Tales») aller Zeiten in seinem Heimatland
verantwortlich zeichnet. Dass der Mann etwas kann, ist so mithin schon mal geklärt. Und entsprechend darf man von seinem immerhin zweistündigen und in den beiden Hauptrollen ziemlich prominent
besetzten Film auch ein bisschen etwas erwarten. Und zwar: packende Krimikost nach alter Väter Sitte. Und nicht: die Neuerfindung des Genres und das Erklären der Welt. Genau das freilich ist
quasi der kritische Zielkonflikt und auch der Grund, weshalb Szifrons Film trotz bombensicherer Kompetenz auf allen Ebenen und betonsolidem Unterhaltungswert vor den Augen vieler keine Gnade
gefunden hat – wird doch heute von einem jeden Film eines jeden Genres ultimativ gefordert, die mannigfachen Missstände auf unserem grossen blauen Planeten zu benennen und hernach
gesinnungstechnisch adäquat darüber zu lamentieren. Szifron scheint das Memo allerdings nicht bekommen zu haben – oder er hats bekommen und nonchalant dem Schredder zugeführt. Und wer ihm
neckisch zuraunen möchte, die Neunziger hätten angerufen und wollten ihren Film zurück, dem sei gesagt: Coole Sache, die Neunziger waren schliesslich das letzte richtig gute Kinojahrzehnt.
Die Lädierte und der Exzentrische
Ein gewichtiger Unterschied zu damals offenbart sich in «To Catch a Killer» indes schon in den ersten wilden Minuten, als ein Wahnsinniger in der Silvesternacht vom 17. Stock eines Hochhauses im
Zentrum von Baltimore wahllos 29 Menschen jeglichen Alters, Geschlechts und Aussehens in den Nachbargebäuden abknallt: Wiewohl das alles tadellos getaktet und makellos choreografiert ist,
vermögen die gestochen scharfen Digitalbilder von Kameramann Javier Julià nie jenes Unbehagen zu erzeugen, das dem gespenstischen Szenario angemessen wäre. Und auch wenn man sich die Mühe macht,
dieses Manko mit kühnen Kamerafahrten und -perspektiven ein Stück weit zu kompensieren, bleibt es dabei: Früher hätte das ungleich fescher ausgeschaut. Aber das lässt sich natürlich locker über
90 Prozent der gegenwärtigen Produktionen sagen. Man muss sich notgedrungen damit abfinden, dass Filme heutzutage nun mal so aussehen. Machen wir das Beste daraus – und genau das tut Szifron
sodann. Er schickt die von einem tonnenschweren Rucksack auf den steinharten Boden der Tatsachen gedrückte Streifenpolizistin Eleanor Falco (Shailene Woodley) auf die Spur des offensichtlich
hochprofessionellen Täters. Oder besser: Der exzentrisch-intellektuelle FBI-Mann Lammark (Ben Mendelsohn) tut das, denn er sieht in der engagierten Eleanor jenes gewisse Extra an Empathie, das
seiner felsenfesten Überzeugung nötig ist, um diesen Wahnsinn zu stoppen. Freilich macht ihm nicht nur der Killer das Leben so verdammt schwer, der auch bei einem zweiten Amoklauf in einer Mall
kaum Spuren hinterlässt, sondern auch die ganzen Clowns, die an der Seitenlinie stehen: die Politiker, die sich permanent einmischen; die Vorgesetzten, die seine unkonventionellen Methoden
infrage stellen; die Medien, die sich am Spektakel laben; und selbstredend die unvermeidlichen Social-Media-Rowdys, die Öl ins Feuer giessen.
Ton, Takt, Tempo, Timing – alles im Fluss
Alles andere als prima Rahmenbedingungen also für Lammark und Eleanor – aber ein sattsam bewährter Nährboden für einen «Procedural», wie man im angelsächsischen Raum jene Sorte Krimi nennt,
wo das Verfahrenstechnische im Vordergrund steht. Das umso mehr, als diese Scharmützel vom Rand zwar etablierten Mustern folgen, die gängigen Klischees aber in der Regel recht weiträumig
umschiffen. Und als flotter Bonus sind die kleineren Rollen auf diesen Nebenschauplätzen fast durchweg mit Charakterköpfen besetzt, denen man gerne auch noch etwas länger zugeschaut hätte. Das
Switchen von den aufreibenden Ermittlungsarbeiten zu den nicht minder zermürbenden taktischen, politischen und auch privaten Geplänkeln gelingt Szifron im Grossen und Ganzen mühelos – vor
Holprigkeiten und Längen ist sein Film entsprechend gefeit. Auch das Rauf- und Runterfahren der Lautstärke – vom gleichsam andächtigen Philosophieren über die Motive des Täters zum nächsten irren
Stakkato-Spektakel – wickelt er überaus geschmeidig ab: Ton, Takt, Tempo, Timing – alles ist im Fluss. Ja selbst für eine auflockernde Prise Humor findet der eigentlich im Komödienfach
heimische Regisseur unwahrscheinlicherweise noch den passenden Ort und die geeignete Zeit. Und als ob das nicht schon alles erfreulich genug wäre, presst Szifron gegen Ende hin auch noch das eine
oder andere Augenschmankerl aus seinem spröden digitalen Werkkasten heraus. Da endlich wähnt man sich selig zufrieden vollends in den guten alten Neunzigern.