Sehnsüchte in der Steppe Kasachstans

Die mehrfach preisgekrönte kasachische Tragikomödie «Tulpan» fokussiert in meditativ langen Einstellungen auf eine unwirklich karge Landschaft und einen jungen Träumer.

 

von Sandro Danilo Spadini

Seit «Borat» mag die Bekanntheit Kasachstans schlagartig gestiegen sein. Mit realem Wissen um die einstige Sowjet-Republik in Zentralasien ist es in hiesigen Gefilden aber nach wie vor nicht weit her. Eine Menge Öl soll es dort geben, Astana heissen die Hauptstadt wie die Rad-Equipe, für die Lance Armstrong sich hat einspannen lassen, und einige alternativ orientierte Cineasten dürften bemerkt haben, dass es dort eine aufstrebende Filmszene gibt. Diese hat sich in einigen internationalen Koproduktionen engagiert wie Volker Schlöndorffs «Ulzhan», im Vorjahr für den Monumentalstreifen «Mongol» eine Oscar-Nominierung ergattert und nun mit «Tulpan» einen Film hervorgebracht, der Preise an einem runden Dutzend Festivals quer über den Globus sammeln konnte.

Unter Heiratsdruck

Das Langspielfilm-Debüt des zuvor im Dok-Bereich tätigen Kasachen Sergey Dvortsevoy erzählt schalkhaft eine simple Geschichte über die ewigen Themen: Der junge Asa (Askhat Kuchinchirekov) kehrt nach geleistetem Militärdienst in der Marine in die kasachische Steppe heim, um dort die nächste Phase der Mannwerdung in Angriff zu nehmen. Mit dem Berufsziel Schafhirte hat er sich etwas Naheliegendes und im Grunde Machbares vorgenommen. Doch von seinem mürrisch-tyrannischen Schwager (Ondasyn Besikbasov), dem Familienoberhaupt, wird ihm auf halbem Weg zum Traumjob ein unerwartetes Hindernis in den Weg gestellt: Bevor Asa seine Herde kriegt, soll er gefälligst erst mal heiraten. Das ist ja schon anderswo leichter gesagt als getan und in der in jeder Hinsicht kargen Steppe natürlich noch ungleich schwieriger zu bewerkstelligen. Immerhin gibt es eine valable Kandidatin in der erweiterten Nachbarschaft: Tulpan. Sie hat es Asa denn auch gleich schwer angetan; doch was zunächst wie eine gemähte Wiese ausschaut, entpuppt sich schnell als Ding der Unmöglichkeit. Die Marinegeschichten, die er ihren Eltern beim Werbegespräch stolz vorträgt, beeindrucken die versteckt hinter einem Vorhang lauschende Tulpan wenig. Stattdessen konzentriert sie sich auf seine abstehenden Ohren und folgert schnöde, dass das keiner für sie sein kann. Asa ist konsterniert, verzweifelt – und mehr und mehr besessen von der Idee, die Frau seiner Träume doch noch für sich zu gewinnen.

Die Weite erfahren

Die Frau seiner Träume ist Tulpan freilich nicht im klassischen Sinn. Vielmehr materialisieren sich Asas Sehnsüchte in ihr. Tulpan ist Projektionsfläche, und diese bleibt für ihn wie uns blank, zumal weder er noch wir sie je zu Gesicht bekommen. Träume und Sehnsüchte sind hier überhaupt zentral. In ihnen finden die Protagonisten Zuflucht, wenn Frust und Ungeduld zu obsiegen drohen, wobei sie gleichwohl genügsam bleiben. Asa und sein ganz hollywoodhaft jovialer Sidekick Boni (Tulepbergen Baisakalov) blättern zwar gerne in zerfledderten Magazinen, in welchen die Verheissungen der 500 Kilometer entfernt liegenden Stadt locken. Doch wenigstens bei Asa spürt man, dass seine Vorstellungen von Glück woanders ihre Erfüllung finden werden. Namentlich ebendort, wo er jetzt ist, in der von Sandstürmen, Kindergesang und einer kranken Schafherde umrahmten Steppe, deren Weite und Schlichtheit Dvortsevoy in sehr langen Einstellungen zu vermessen sucht. Stellenweise erinnert «Tulpan» dadurch, aber auch mit der Thematik der «schwierigen» Liebe an das unlängst vorgelegte mexikanische Wunderwerk «Stellet Licht». Da wie dort ist die Landschaft die eigentliche Hauptfigur, und auf dem Weg zu deren konzentriert plastischer Schilderung wird das Publikum dort wie da mit einer für moderne Sehgewohnheiten fast irritierend tiefen Schnittzahl herausgefordert. Bei «Tulpan» bleibt freilich auch Platz für Skurriles wie etwa den mit unzähligen Fotos nackter Frauen verzierten Geländewagen, aus dessen Radio unablässig «Rivers of Babylon» der Siebzigerjahre-Plastikkombo Boney M. ertönt, oder anderen ulkigen Gerätschaften, die wiederum von Kusturica geborgt sein könnten. Mit derlei Brüchen holt sich Dvortsevoy, durchaus kalkuliert, letztlich jene Sympathien, die seinen ohnehin schon denkwürdigen Film zu einem unvergesslichen Erlebnis machen.