von Sandro Danilo Spadini
Zwölf Jahre alt ist Na-young, als sie ihrer Heimat Adieu sagen muss. Die Künstlereltern haben sich entschieden, von Seoul nach Toronto auszuwandern; und für die aufgeweckte Tochter
heisst das nicht nur Abschied nehmen von einem Teil ihrer Identität – was sich nur schon in der Anglisierung ihres Namens zu Nora ausdrückt. Sondern auch von Hae-sung, ihrem besten Freund,
den sie «vermutlich irgendwann heiraten» wird. Ihn freilich wird sie wiederfinden – das hat das Schicksal gleichsam vorbestimmt. Zwar dauert es zwölf Jahre, und die Reunion geht über eine
wacklige Skype-Verbindung vonstatten, da er immer noch in Seoul lebt und sie mittlerweile nach New York weitergezogen ist. Aber dafür lohnt es sich, dass Hae-sung all die Zeit und Mühe
aufgewendet hat, sie über die sozialen Medien aufzustöbern: Als ob sie sich erst tags davor auf dem Heimweg von der Schule voneinander verabschiedet hätten, finden sie sogleich wieder den Draht
zueinander. Er habe sie vermisst, sagt er ihr: auch wenn das überhaupt keinen Sinn mache. Sie habe ihn auch vermisst, meint sie. Und nein: Es mache wirklich keinen Sinn. Damals, in der Schule,
hatten die beiden wettgeeifert; nun sind sie auf gänzlich unterschiedlichen Pfaden unterwegs. Sie hat es ihren zu Leonard-Cohen-Songs rauchenden Eltern gleichgetan und sich als Dramaturgin dem
Musischen zugewandt. Und auch er ist der Familientradition treu geblieben und studiert Ingenieurwissenschaften. Sie hatte denn auch schon immer grosse Träume: Nobelpreis! Pulitzer! Ein bisschen
«psycho», wie er das zu nennen pflegt. Er hingegen war seit je eher praktisch veranlagt. Ernster. Nachdenklicher auch. Womöglich durchaus ein wenig schwermütig. Wehmütig. Doch aller
Gegensätzlichkeit und aller physischen Distanz zum Trotz entwickelt sich schnell wieder Nähe, entsteht nach wenigen Bildschirmtreffen abermals eine enge Bindung, eine zärtliche Vertrautheit.
Irgendwann allerdings merkt Nora, dass ihr das nicht mehr reicht. «Warum sollte ich nach New York kommen?», hatte Hae-sung ihr gesagt. «Warum sollte ich nach Seoul kommen?», beschied sie ihm dann
später einmal. Und so beendet sie eines Tages die Sache. Eigentlich nur temporär. Doch werden es noch einmal zwölf Jahre, bis sich die beiden wiederfinden. Dieses Mal sogar in echt. Von Angesicht
zu Angesicht. Bei ihr in New York. In Gegenwart ihres Ehemanns. Und als mittlerweile erwachsene Menschen, für die der jeweils andere doch immer noch der Teenager ist, in den sie einst so
schicksalhaft verliebt waren.
Im Hier und Jetzt
Selbstsicher und zielstrebig lässt die koreanisch-kanadische Dramaturgin Celine Song die Geschichte ihres autobiografisch gefärbten Spielfilmdebüts
«Past Lives» voranschreiten, elegant und geschmeidig durch die wechselnden Zeiten, die nicht allzu
stürmischen Gezeiten dieses unerfüllt bleibenden Liebensversprechens gleiten, das vom Leben oder vom Schicksal halt nie die Zeit und den Raum zur Entfaltung bekommt und so in der Andeutung
verharrt – der durchaus konkreten Andeutung zwar, nahe am Ausgesprochenen gar, aber eben: verharrt. Trotz all dem Schmachten und Schmunzeln, Glotzen und Glucksen, Schwelgen und Schwärmen,
Grinsen und Glühen. Die Etappen und Eckdaten dieser beiden Leben werden dabei bloss kursorisch erörtert, rasch gestreift, in aller gebotenen Kürze quasi abgehandelt – gerade so, wie wenn
sich zwei Freunde oder vormals Liebste, die sich ewig nicht mehr gesehen haben, von ihren Leben berichten und keine Minute, keine Millisekunde ihrer gemeinsamen Zeit vergeuden wollen, dieser
bloss geliehenen oder womöglich sogar gestohlenen Zeit, die so unerbittlich zerrinnt. Im Stil eines Richard Linklater und dabei namentlich seiner «Before»-Trilogie oder auch eines Noah Baumbach
und damit auch eines Woody Allen baut Song die Nähe zu den Protagonisten nicht über einen ausgeklügelten und breit aufgefächerten psychologischen Background auf, sondern nahezu ausschliesslich
über das Hier und Jetzt: über die intelligenten, aber nie intellektualisierten Dialoge natürlich zum einen; zum anderen und fast noch schöner aber auch über Gesten, über Blicke – so wie ganz
zu Beginn des Films, der in der Gegenwart startet und aus gebührlicher Distanz drei Leute in ihren Dreissigern an einer Bar zeigt, beobachtet von einem gesichtslosen Paar, das im Off darüber
spekuliert, wie die drei zueinanderstehen, während der Blick der eleganten Frau an der Bar auf einmal abschweift und immer verträumter wird. Grosses Gefühlskino schon hier!
All die Facetten der Liebe
Ein makelloser Film ist «Past Lives» vielleicht nicht gerade geworden. Da darf man etwa den Soundtrack nicht unter den sterilen Klangteppich kehren, der dermassen bieder ist, dass er es bisweilen
tatsächlich vermag, die Emotionalität sogar herunterzuschrauben. Und frei von Längen und Banalitäten ist Songs Erstling auch nicht, was angesichts der eher bescheidenen Laufzeit von knapp über
100 Minuten fraglos ein gewisses Manko darstellt. Doch schafft es diese so facettenreiche und trotz einer unter der Oberfläche wabernden Grundtraurigkeit wohl wirklich grösste
Liebesgeschichte der letzten Kinojahre gleichwohl, einen auch dank der beiden charismatischen und sympathischen Leads Greta Lee und Teo Yoo auf wundersame, wahrhaft wundervolle Weise im Sturm zu
erobern – und wie mühelos und spielerisch sie das schafft, das ist das fast noch grössere Wunder. Auch wenn hier Dinge wie Identitätsfragen in den Fokus rücken, wirkt das nie je verkopft; also
selbst dann, wenn Nora sich bei ihrem Gatten darüber auslässt, wie koreanisch Hae-sung sei, und sie dabei das Wort «koreanisch» derart oft ausspricht, dass klar wird, dass sie eigentlich hier
gerade den Verlust ihrer Wurzeln beklagt. Selbst in solchen Szenen lässt Song dem Drama nicht freien Lauf, so wie sie auch die Romantik stets im Zaum hält. Keine Tränen. Keine Küsse. Nur ganz zum
Ende, da bricht es durch. Denn da endlich realisiert Nora dass ihr Identitätsverlust ein doppelter ist: dass wir nämlich mit jeder Liebe, die wir verlieren, auch ein Stück von uns selbst
verlieren.