von Sandro Danilo Spadini
Es war perfekt. Er hatte sie geliebt. Er war glücklich. Er wollte den Rest seines Lebens mit ihr verbringen. Und jetzt ist sie weg. Bei einem anderen. Und das unmittelbar nach der
standesamtlichen Trauung. Barnaby (James D’Arcy) liegt begraben unter dem Scherbenhaufen, der einst sein Liebesglück war. Er ist am Boden zerstört. Er ist fertig. Er ist am Ende. Carmen (Natalia
Verbeke), seine temperamentvolle spanische Frischangetraute, vergnügt sich derweil mit Kit (Gael García Bernal), einem arbeitslosen brasilianischen Schauspieler, dessen hartnäckigem Werben und
dessen naivem Charme sie letztlich nicht widerstehen konnte. Kennen gelernt hat sie diesen Kit ausgerechnet an ihrem Polterabend, und schuld am ganzen amourösen Chaos war ein blöder französischer
Brauch, der besagt, dass die heiratswillige Frau vor der Hochzeit, zum Abschied vom Single-Dasein, noch einen fremden Mann küssen muss. Sie hatte ihn geküsst, und er war ihr sofort verfallen. Sie
hatte sich redlich gewehrt gegen ihre Zweifel und das in ihr allmählich aufsteigende Begehren, aber am Ende war es zwecklos. Sie war verwirrt, hatte Angst. Und jetzt ist sie also bei ihm und
sieht ein, dass es ein Fehler war. Sie will zurück. Zurück zu Barnaby. Zurück zu ihrem Ehemann. Doch jetzt ist es zu spät.
Nur bloss nett?
«Dot the I», das Regiedebüt des britischen
Romanautors Matthew Parkhill, wirkt auf den ersten, zweiten und dritten Blick wie eine gewöhnliche Dreiecksgeschichte. Gut gemacht, gut gespielt und durchaus mit etwas psychologischer Tiefe zwar,
aber grundsätzlich nichts Bahnbrechendes, nichts Weltbewegendes. Die Figuren scheinen nicht uninteressant zu sein, doch noch weiss man zu wenig von ihnen. Unter der Oberfläche scheint etwas
verborgen zu sein, doch noch kann man sich keinen Reim auf die dezenten Andeutungen machen. Das Ganze scheint sehr wohl unterhaltsam und bisweilen auch klug zu sein, doch noch fehlt der letzte
Tick. Und so kommt man zum voreiligen Schluss, dass «Dot the I» halt ein schlichter, kleiner Film ist, keine Perle, kein cineastisches Kleinod, sondern eine dieser angenehm gelassenen britischen
Produktionen, in denen sich stille und heitere Momente abwechseln. Hier wird einfühlsam und unprätentiös vom richtigen Leben berichtet, eine mehr oder minder unspektakuläre, aber eben lebensnahe
Geschichte erzählt und dann und wann ein wenig mit der Filmgeschichte gespielt. Nett ist das. Mehr aber auch nicht.
Auf den Kopf gestellt
Dies alles gilt für die erste Dreiviertelstunde des Films. Dort, wo vergleichbare Filme aufhören, wird man bei «Dot the I» jedoch erst in die Halbzeitpause entlassen. Was einen nach dem Pausentee
erwartet, ist dann freilich ein völlig anderer Film, der die Perspektive komplett verändert und alles vorher Gesehene auf den Kopf stellt. Die Vorahnungen bestätigen sich somit: Hier liegt in der
Tat noch etwas unter der Oberfläche verborgen. Aus dem konventionellen Beziehungsdrama wird urplötzlich ein experimenteller Psychothriller, der ein virtuoses Spiel mit dem ewigen Gegensatz
zwischen Fiktion und Realität treibt und die Bedeutung des Filmtitels in einem gänzlich neuen Licht erscheinen lässt. «Cross the t’s and dot the i’s», sagt der Engländer, wenn es nur noch darum
geht, letzte Unklarheiten zu beseitigen, um eine Angelegenheit zum Abschluss zu bringen. Was hier vollendet werden soll, ist folglich nicht das Liebesglück der (vormals) Verliebten, es ist
folglich nicht die Hochzeit, die das Tüpfelchen aufs I setzt. Es ist etwas anderes. Etwas ganz anderes. Was es genau ist, soll an dieser Stelle selbstredend nicht enthüllt werden und wird nach
immer wieder neuen Twists und Volten auch erst ganz zum Schluss offenbar. Nix mit Zurücklehnen, nix mit Entspannen also, denn Parkhill will mit seinem eineinhalbstündigen Erstling beweisen, dass
ein Spiel auch in der Welt des Kinos bisweilen neunzig Minuten dauert. Will sagen: Es ist nicht vorbei, bis es vorbei ist. Verraten sei zum Abschluss indes noch so viel: Das Spiel macht richtig
Spass. Und am Ende ist «Dot the I» doch noch das, was man am Ende der ersten Hälfte noch nicht für möglich gehalten hätte: eine Perle, ein cineastisches Kleinod.