von Sandro Danilo Spadini
Jack Nicholson tuckerte in «About Schmidt» in seinem neuen Wohnmobil über Umwege von Omaha nach Denver; Paul Giamatti streifte in «Sideways» auf der Junggesellenabschiedstour seines
Kumpels durch die kalifornischen Weinbaugebiete; George Clooney begab sich in «The Descendants» auf familiäre Spurensuche in Hawaii; und Bruce Dern irrlichterte sich in «Nebraska» in umnachteter
Erwartung eines Millionengewinns über fast anderthalbtausend Kilometer von Montana in den titelgebenden Bundesstaat. Mit anderen Worten: Sie machen also gerne Reisen in den Filmen des bald
63-jährigen Alexander Payne aus Omaha, Nebraska. Reisen, an deren Ende sie ein bisschen mehr über sich gelernt und wir eine ganze Menge über sie erfahren haben. Das ist in Paynes neuem, seinem
achten Film nicht anders. Nur ist der Trip, den wiederum Paul Giamatti in
«The Holdovers» zurücklegt, ein relativ kurzer – ja eigentlich ist es abgesehen von dem kurzen Ausflug nach Boston hier mehr denn
je vor allem eine Reise zu sich selbst. Giamatti, in den letzten Jahren vornehmlich als bissig verbissener Bundesstaatsanwalt in der Wirtschaftskrimi-Serie «Billions» unterwegs, schlüpft hier in
eine Paraderolle und gibt den grummelig kauzigen Paul Hunham, Professor für Alte Geschichte an einer privaten Highschool in Massachusetts, ledig, unförmig und geplagt von einer fischigen
Körperausdünstung: «ein armer schielender Teufel», wie ihn ein Kollege nennt, und jemand, der nicht einmal einen ganzen Traum träumen könne, wie jemand anderes so grandios sagt – einer indes
auch, der nicht nur in der Lehrerschaft, sondern mehr noch bei den schnöseligen Eleven monumental unbeliebt ist. Sein Ansatz sei ja mehr ein traditioneller, sagt der Rektor und meint das nicht
als Kompliment. Er solle den Schülern doch mehr Spielraum geben. Mehr Spielraum, findet Paul indes, sei das Letzte, was «diese Schurken» brauchten. Er wolle ihnen bloss grundlegende akademische
Disziplin beibringen, diesen «privilegierten kleinen Degenerierten». Und das gilt auch jetzt, in der Weihnachtszeit des Jahres 1970, die er, quasi als Strafaufgabe, auf dem Campus totschlagen
muss, um zu einer Handvoll Schüler zu schauen, deren Eltern gerade keine Verwendung für sie haben: den sogenannten Holdovers. «Bitte tu wenigstens so, als ob du ein menschliches Wesen seist.
Bitte. Es ist Weihnachten», gibt ihm der Rektor noch mit auf den Weg. Und wiewohl es eine wackere Weile, bis weit in die zweite Hälfte des zweieinviertelstündigen Films, dauern wird: Paul, der
ungeniert schon morgens um elf eine Whiskeyfahne spazieren trägt und lieber allein ist, weil die Welt für ihn keinen Sinn mehr macht, wird die Worte wider Willen und Erwarten wirklich
beherzigen.
In warmem Siebzigerjahre-Stil
Okay, ganz so unerwartet kommt das auch wieder nicht; schliesslich ist «The Holdovers» ein Film von Alexander Payne, einem Mann, der es immer schon gut gemeint hat mit seinen Figuren. Und sowieso
schrumpft diese weihnächtliche Schicksalsgemeinschaft, die zunächst an die Konstellation des Achtzigerjahre-Klassikers «The Breakfast Club» oder der etwa gleich alten launigen Blödelei «Summer
School» erinnert, bald zu einem Trio von Sonderlingen – von scheinbar so ungleichen Aussenseitern, die man trotz ihrer mannigfachen Fehler und teils unmöglichen Unzulänglichkeiten nur sympathisch
finden kann: Neben Paul sind da noch die um ihren unlängst in Vietnam gefallenen Sohn weinende kernig kettenrauchende Kantinenköchin Mary (Da’Vine Joy Randolph), mit der sich der desillusionierte
dünkellose Prof ohnehin bestens versteht, und der 17-jährige Angus (Dominic Sessa), ein so gescheiter wie vorwitziger Schlaks, der wohl geboren wurde, um Autoritätspersonen das Leben schwer zu
machen. Sie alle sind gefangen in ihren Gefängnissen, in Trauer, Wut, Angst und Schmerz, tragen ihr Kreuz und darum herum einen Panzer. Und es ist eine Meisterleistung von Payne und dem hier ein
altes Drehbuch für eine geplatzte Fernsehserie verwertenden TV-Autor David Hemingson, wie sie diesen Panzer einer Zwiebel gleich Schicht um Schicht abtragen, bis der viel bemühte sprichwörtliche
weiche Kern offen daliegt und bisweilen unvermutete Gemeinsamkeiten offenbart werden. Sie tun das, indem sie die gängigen Klischees solcher Seelenstriptease-Storys weiträumig umschiffen, und das
auf eine Weise, die nie aufdringlich und nie rührselig ist, in einem Geist, der zwar keineswegs konfliktscheu, dabei aber wohltuend friedfertig ist, und in einem Ton, der gleichzeitig
scharfzüngig und warmherzig ist. Gehüllt ist das Ganze in wunderbar warme Siebzigerjahre-Farben, und untermalt wird es von soften Klängen, von Chor über Klassik und Jazz bis Folk von Damien
Jurado oder Cat Stevens.
Gleich drei Prachtauftritte
Belohnt worden ist dieses herrliche, dieses herzliche, dieses herrlich herzliche Werk mit der Oscar-Nominierung für den Besten Film sowie in vier weiteren Kategorien. Dass neben Skript und
Schnitt auch zwei der Stars dem feschen Goldmann mehr als nur vage Avancen machen dürfen, ist dabei alles andere als eine Sensation. Schliesslich ist es mehr die Regel denn die Ausnahme, dass
Mitglieder eines Payne-Ensembles an der Gala im Dolby Theatre einen der besseren Plätze einnehmen dürfen; Paul Giamatti und Da’Vine Joy Randolph (zuletzt in «The Idol» zu bewundern) sind bereits
die Nummern acht und neun, die Payne zu einer Oscar-Nominierung dirigiert hat. Dass es für den Dritten im Bunde, den fulminanten Debütanten Dominic Sessa, nicht auch noch gereicht hat, ist
derweil ein regelrechter Jammer. Zwar ist seine Nichtberücksichtigung angesichts der prominenten Konkurrenz in seiner Kategorie fraglos nachvollziehbar; aber die Geschichte wäre einfach zu gut
gewesen – ergatterte der 22-Jährige den Part doch nur per Zufall, nachdem Payne keinen der von der Castingabteilung vorgeschlagenen 800 (!) Bewerber goutiert und man so die Suche auf Internate
ausgeweitet hatte, darunter just auch jenes, das als Drehort diente und das Sessa zu diesem Zeitpunkt besuchte. «Machen wir das Beste daraus», haben sie sich da womöglich gesagt, so wie das Paul
zu Beginn dieser zwar turbulenten, aber wie bei Payne üblich nicht alles auf den Kopf stellenden bittersüssen Reise verkündet. Aber dass das Beste dermassen gut sein könnte und vom grobkörnig
knisternden Retrovorspann bis zur letzten prächtigen Einstellung, von den drei Hauptfiguren bis zu den Nebenrollen, vom kleinen bis zum grossen Gedanken und vom Anfangs- bis zum Schlusssatz
gleich so konsequent charmant durchgezogen würde – das ist nun wirklich das schönste (verspätete) Weihnachtsgeschenk, das man sich wünschen kann.