Im Diät-Camp erwacht der Hunger aufs Leben

In «Paradies: Hoffnung» zeigt der österreichische Extremfilmer Ulrich Seidl ungewohnte Beisshemmung. Trotzdem ist auch der Abschluss seiner Trilogie «ein typischer Seidl».

 

von Sandro Danilo Spadini

Wenn man unbedingt möchte, könnte man den Abschluss von Ulrich Seidls «Paradies»-Trilogie einen Leni-Riefenstahl-Film mit dicken Kindern nennen. Aber das wäre dann vielleicht politisch arg unkorrekt – sogar für einen wie den österreichischen Extremfilmer, der sich nach der «Liebe» und dem «Glauben» nun der «Hoffnung» zuwendet. Mindestens einen Flirt mit der Ästhetik der Nazi-Filmerin legt Seidl freilich schon hin: etwa wenn er seine mollige 13-jährige Heldin Melanie (Melanie Lenz) im Diät-Camp im weissen Sportkleid in Reih und Glied mit einem guten Dutzend Leidensgenossen rumturnen lässt. Streng geht es hier nicht nur in ästhetischer Hinsicht zu; streng ist auch der Instruktor (Michael Thomas), der zwar ausschaut wie ein Gebrauchtwagenhändler, aber ein glühender Anhänger der Disziplin ist. So wie eben der Seidl, der seit je dem Geometrischen, dem Symmetrischen anhängt bei seinen fein säuberlich angeordneten Tableaus, den von der statischen Kamera festgezurrten Stillleben, diesen kadrierten «Altarbildern», wie er sie selbst nennt. Insofern ist auch «Paradies: Hoffnung» ein durch und durch typischer Seidl-Streifen. Noch und noch gibts hier was fürs Auge und bisweilen auch die Faust drauf, wenn er abermals das Unschöne, Ungustiöse, Unappetitliche zelebriert. Die ganz grossen Grauslichkeiten indes erspart uns Seidl diesmal. Wie seine Protagonistin setzt er quasi auch sich selbst auf Diät und zügelt seine Lust auf provokante Schweinereien und groteske Zuspitzungen.

Was macht der Doktor?

Statt vor den Kopf zu stossen, zermürbt Seidl sein Publikum hier lieber Mal um Mal. Mit endlosen Einstellungen, Aufzählungen, Erzählungen, Ausführungen schafft er ein Gefühl für die repetitive Monotonie, der die Jugendlichen in diesem Diät-Camp irgendwo in der Pampa ausgesetzt sind. Eine rechte Identifikation mit den Laienmimen und ihren Figuren will dabei gleichwohl nicht entstehen; dafür sind deren Sorgen und Freuden dann doch zu weit weg von den unsrigen, und entsprechend fadisiert ist man mit der Zeit von den Flaschenspielen und dem Mädchengeplapper über erste erotische Erfahrungen. Spannend wirds erst wieder, wenn die Kamera sich auch mal bewegt: etwa wenn sie wie in einem Horrorfilm durch den Wald streift und uns ein Unglück wittern lässt; oder wenn sie die ausgebüxten Heldinnen zeigt, wie sie besoffen von zu viel Kräuterschnaps in einer gnadenlos trostlosen Tanzbar landen – einem jener schauerlichen Österreicher-Orte mit schrecklichen Menschen, wie sie nur ein Ulrich Seidl aufspüren kann. Und akut wirds vor allem, wenn die Erwachsenen ins diesmal nur andeutungsweise morbide Spiel kommen – namentlich der Camp-Arzt (Joseph Lorenz), der wie so viele Seidl-Protagonisten namenlos bleibt und kurz davor steht, eine namenlose Ungeheuerlichkeit zu begehen. In ihn hat sich Melanie nämlich verguckt; und er, gegen die 50 und mit silbernem Haar, scheint auch nicht ganz abgeneigt zu sein, etwas mit dem blonden Backfisch anzufangen. Doch immer, wenn man den Sündenfall kommen sieht, steckt Seidl wieder zurück und steckt auch der Arzt zurück. Was für ein Unterschied noch zum ersten Teil der Trilogie mit der österreichischen Sextouristin in Kenia, wo kein Blatt vor den Mund und kein Feigenblatt vor die Scham genommen wurde.  

Das Spiel über Kreuz

Auf diesen ersten Teil und etwas weniger auf den zweiten verweist die «Hoffnung» trotzdem zahlreich. So ist uns Melanie schon zu Beginn der Trilogie, in der «Liebe», als träge Tochter der Liebesurlauberin begegnet, und ihre Tante, die sie nun ins Diät-Camp karrt, war die Hauptfigur im «Glauben». Dieses auch motivische und thematische Spiel über Kreuz funktioniert ohnedies prächtig und jedenfalls besser als der am Ende doch allzu unböse Film selbst, der mehr als Teil des Ganzen denn als Einzelwerk überzeugt. Ein Wunder ist das nicht, hatte Seidl doch ursprünglich vor, bloss einen einzigen Film mit drei Handlungsträgerinnen zu drehen. Dass er sich schliesslich für die Form der Trilogie entschieden hat, war zwar sicher nicht verkehrt; doch hat das Finale – man verzeihe das Wortspiel – einfach etwas wenig Fleisch am Knochen.