Gedankensturm im Schneegestöber

Charlie Kaufman entführt uns auf einen klaustrophobischen, chaotischen, labyrinthischen Trip, der viel negative Energie und ein loophaftes Gefühl von frustrierender Unendlichkeit absondert. Soll man sich «I’m Thinking of Ending Things» also antun? Unbedingt!

   Netflix

Von Sandro Danilo Spadini

An Charlie Kaufman sieht man doch wieder einmal, wie gnadenlos Hollywood ist. Mitte der Nullerjahre, nach dem Hattrick mit «Being John Malkovich», «Adaptation» und «Eternal Sunshine of the Spotless Mind», galt der strubbelige Knallkopf noch als Über-Wunderkind und heissester Schreiber in Tinseltown; einen einzigen kommerziellen Flop später – mit seinem von der Kritik durchaus goutierten Regiedebüt «Synecdoche, New York» – war er praktisch schon out: Das Geld für eine zweite Regiearbeit liess sich nicht zusammenkratzen; die zwei Serien, die er konzipierte, gingen nie an den Start; und aus der Handvoll Skripts, die er für Regisseure wie Spike Jonze oder Guillermo del Toro schrieb, wurde nichts. Nun aber ist Kaufman, der just auch seine Romanpremiere gefeiert hat, zurück auf der Bildfläche; und wie zuletzt so oft, etwa bei Martin Scorseses «The Irishman», erweist sich der Streaming-Gigant Netflix als Retter in der kreativen Not. Er hat es Kaufman ermöglicht, mit «I’m Thinking of Ending Things» den gleichnamigen Roman des Kanadiers Iain Reid zu adaptieren, den «mutigsten und originellsten Thriller seit Jahren», wie die «Chicago Tribune» meinte.

Ein eigenes Genre

Dass Kaufman hier auf einem fremden Stoff aufbaut, bedeutet freilich nicht, dass er sich untreu würde oder auch nur einen Millimeter von seinem Modus Operandi abwiche. Wie noch jedes seiner Werke entzieht sich auch sein neustes einer Genrezuschreibung. Es ist einfach ein Charlie-Kaufman-Film; der Mann ist quasi sein eigenes Genre, so wie vielleicht sonst nur noch David Lynch sein eigenes Genre ist. Und mit den Filmen des Zaren des Bizarren, den Kaufman neben Kafka, Beckett, Woody Allen oder den Coen-Brüder schon mal als Inspirationsquelle angegeben hat, pflegt «I’m Thinking of Ending Things» prompt eine gewisse Seelenverwandtschaft. Geschildert und weniger im klassischen Sinne erzählt wird hier die Geschichte eines jungen Paares, das erst seit sechs Wochen zusammen ist und nun den berühmten nächsten Schritt machen möchte. Er (Jesse Plemons, auf Philip Seymour Hoffmans Spuren) heisst Jake, sie (Jessie Buckley) wird einmal Luisa genannt, aber das ist kaum ihr richtiger Name. Jake und «die junge Frau», wie sie im Abspann kreditiert wird, machen sich mitten in einem Schneesturm von der Stadt auf, um hinaus aufs Land zu fahren. Das Ziel ist eine abgelegene Farm, wo Jakes ebenfalls namenlos bleibende Psychoeltern (Toni Collette und David Thewlis) hausen. Und wenn der Weg das Ziel ist, na dann servus! Die Fahrt jedenfalls ist schon mal gruselig. «Jake ist wirklich grossartig. Er ist süss. Er ist sensibel. Er hört mir zu. Er ist klug», sinniert die Stimme im Kopf der jungen Frau. Und: «Das mit Jake führt nirgends hin.» Und, immer wieder: «Ich denke daran, die Sache zu beenden.» Während er noch selig, dümmlich, verliebt grinst, hält sie also schon Ausschau nach dem Ausgang – es ist, wie in «Eternal Sunshine of the Spotless Mind», dieser kalte, nackte Horror der unerwiderten Liebe, der einen mehr noch als der Sturm da draussen schaudern lässt. Charlie Kaufman derweil denkt gar nicht daran, die Sache zu beenden. Er streckt diese dialog- und monologreiche Szene gefühlt bis in die Unendlichkeit. Und wenn die beiden – die von den aufstrebenden Jungstars Plemons und Buckley im Übrigen perfekt Kaufman-kompatibel linkisch verkörpert werden – dann bei den Eltern aufschlagen, wird es sogar noch beklemmender. Die Szene zu Tisch, die wiederum eine halbe Ewigkeit dauert, erinnert frappant an das Abendessen in Lynchs Debüt «Eraserhead» – sowieso von der Konstellation her mit dem fragilen jungen Paar, das steif und unsicher noch in der Kennenlernphase steckt und dem die Vertrautheit offenkundig abgeht; ebenso, was die augenfällig gestörten Familienverhältnisse angeht, die in einem den Wunsch wecken, hier oben zu bleiben und bloss nicht runter in den Keller gehen zu müssen; vor allem aber auch ist das in seinem absurden bis surrealen Ton nah dran am angespannten Wahnsinn von Henry Spencers erstem Treffen mit den Eltern seiner Ex-Freundin in Lynchs Untergrund-Kultfilm von 1977.

Verqueres metaphysisches Rätsel

Schliesslich – und das gilt über die Szene und den Film hinaus – wirken wie Lynchs auch Kaufmanns Verrücktheiten nie aufgesetzt; sind die Extravaganzen nie Selbstzweck; scheint nichts je konstruiert, sondern alles stets intuitiv. Und auch bei ihm ahnt man, dass er da etwas Wahrem, Wahrhaftigem auf der Spur ist – wiewohl man es oft genug nicht versteht oder benennen kann. Denn auch das hat Kaufman mit Lynch gemein: Seine Werke werden je länger, je unzugänglicher. Mit gemeiner Logik ist ihnen nicht mehr beizukommen. Es ist ein Chaos von komplexen Gedanken, die sich in einem Labyrinth verlieren, angesiedelt in einer Zeit, die immer wieder aus den Fugen gerät, in einem Paralleluniversum, wo Persönlichkeiten von der einen auf die andere Szene abgestreift werden, wo Menschen urplötzlich um Jahrzehnte gealtert sind. Es ist eine genialische Spielwiese, wo zwischendurch auf der Metaebene getänzelt wird, wo – wie in «Adaptation» – in die Fiktion innerhalb der Fiktion abgetaucht wird, wo endlos philosophiert wird, wo in erschöpfenden Diskussionen mit kulturellen Referenzen jongliert wird – und wo etwa die ganze Zeit über ein mysteriöser Highschool-Hausmeister durch die Gänge und Gedanken, durch die Gedankengänge schlurft. Es ist ein spleeniger und wunderlicher, schrulliger und wirrer Ideenstrom, der wohl eine gewisse Universalität anstrebt, wenn er nur Jake einen Namen gibt; wenn die junge Frau also einmal Malerin ist, dann Dichterin, Gerontologin, Physikerin, Kellnerin, wenn sie eben noch hochintellektuell schien und dann recht simpel gestrickt rüberkommt – dann ist sie vielleicht jedes Mädchen, das Jake in der Schule je gekannt und angehimmelt hat. Oder sich erträumt hat. Denn womöglich hat er sich in diesem Schneesturm ja was eingefangen und schwitzt sich nun durch einen Fiebertraum, durch ein verschachteltes und verqueres metaphysisches Rätsel à la «Mulholland Dr.», in dem man erspüren muss, was Projektion, was Produkt der Einbildung, was Wunschvorstellung und was Albtraumgespinst ist. Diesem mulmigen Gefühl eines zum Zerreissen angespannten, Bild gewordenen Angstzustands in gedämpften Farben jubeln Kaufman und sein mit manch gemäldehaft-prächtiger Aufnahme auftrumpfender Kameramann Lukasz Zal («Ida») auch noch einen ganzen Eisblock Klaustrophobie unter; dies auch, indem sie auf einen Kniff zurückgreifen, der derzeit recht en vogue ist: das Verengen des Bildformats, wie man es schon in Arthaus-Hits wie «The Lighthouse» oder «Waves» gesehen hat. Nicht unähnlich dem ansonsten komplett anders gelagerten Adrenalinrausch «Uncut Gems» der Safdie-Brüder möchte Kaufman uns hier auf einen strapaziösen, sich loophaft anfühlenden Trip in die entgleiste Psyche seines Helden mitnehmen und zu einem ganz bestimmten Gefühlszustand hinführen. Wer sich auf das alles mit Haut und Haaren einlässt, wer das über die vollen 134 Minuten durchhält, ist am Ende jedenfalls erschöpft, verwirrt und frustriert – und damit genau da, wo Charlie Kaufman einen haben wollte.