Bevor die Sonne unterging

In dem Vater-Tochter-Drama «Aftersun» geschieht an der Oberfläche nicht allzu viel, dafür darunter umso mehr – ein hoch originelles, tief berührende, leicht fliessendes und schwer beeindruckendes Spielfilmdebüt, das lange nachhallen wird, auch dank des überragenden Hauptdarstellers.

Frankie Corio und Paul Mescal im Film Aftersun

Outside the Box

von Sandro Danilo Spadini

Sophie (Frankie Corio) möchte jetzt mit ihrem Papa einfach «Losing My Religion» singen, so wie sie das doch in früheren Ferien immer getan haben. Schliesslich ist das einer ihrer letzten Abende hier an der sonnigen türkischen Riviera, bevor es wieder zurück zur Mutter ins graue Edinburgh geht. Und Sophie ist, wie bereits die ganze Zeit in diesem von bleichgesichtigen biertrinkenden Briten bevölkerten Billigresort, bester Laune. Aber Calum (Paul Mescal) hat gerade keine Lust auf Karaoke. Keine Musse, sich auf der Bühne zum Affen zu machen. Keine Kraft, seiner elfjährigen Tochter auch diesen Wunsch zu erfüllen. Denn mit Calum stimmt etwas nicht; das hat sich schon vorher angedeutet. Doch Sophie ist halt noch nicht alt genug, um das zu realisieren – zu registrieren, dass sich in ihrem auch noch ziemlich jungen Vater drin die Dunkelheit ausbreitet, nach und nach, immer mächtiger und drückender, bis sie alles erfasst, alles umfasst und ihn an einen Ort bringt, von wo aus es keine Rückkehr mehr geben kann. Sie hat noch nicht die Weisheit und Weitsicht ihres erwachsenen Ichs, das sich zum 31. Geburtstag die Camcorder-Aufnahmen dieses letzten Urlaubs mit dem Papa anschaut, der damals exakt gleich alt war, wie Sophie heute geworden ist. Und sie hätte auch gar nicht die Fähigkeit, ihn da rauszuziehen, raus aus diesem schwarzen Loch, das ihn am Verschlingen ist.
 
Ein nostalgischer Grundton
 
Eine ganz spezielle und innige Geschichte ist das, was die 35-jährige Schottin Charlotte Wells da in ihrem Spielfilmdebüt «Aftersun» mit grosser Sorgfalt und Präzision ausbreitet. Und sehr clever ist die Form, in der sie das tut: Dass sich die Geschehnisse in diesem bloss scheinbar unbeschwerten Urlaub nicht in der Gegenwart abspielen, wird zwar allein anhand der Musikwahl und der Absenz von Handys rasch klar; dass es sich dabei aber um erinnerte Ereignisse handelt, enthüllt Wells erst gegen Ende der rund 100 Minuten Spielzeit hin. So erscheint das, was sie davor ohne jede Hatz und Hast und in einem bisweilen gleichsam monoton tiefenentspannten Fluss geschildert hat, plötzlich in einem gänzlich neuen Licht und schwillt der ohnehin leicht nostalgische Grundton zur beklemmenden Melancholie an. «Aftersun» ist mithin ein Film, den man von hinten lesen muss, der von seinem Ende aus seine ganze Kraft entwickelt und regelrecht danach schreit, ein zweites Mal, mit anderen, nun wissenden und also offeneren Augen geschaut zu werden. Ein Film auch, wo an der Oberfläche nicht allzu viel geschieht, darunter dafür umso mehr. Es mag auf den ersten Blick müssig und trivial erscheinen, wenn wir Sophie und Calum quasi in ihre Ferien begleiten, mit ihnen am Pool faulenzen, den Gleitschirmfliegern zugucken, sie beim Rumalbern betrachten, ihn bei seinen Tai-Chi-Übungen beobachten, mit ihr vor dem Arcade-Kasten hocken, mit zum Teppichhändler, zum Tauchen, an den Billardtisch, an den Karaoke-Abend oder auf den Tagesausflug zu einer archäologischen Stätte gehen. Weil wir aber nicht zuletzt wegen der immer wieder eingestreuten Camcorder-Aufnahmen so nah bei Vater und Tochter sind und Wells auch in den dazuerinnerten Passagen eine ungeheure Intimität zu erzeugen vermag, kriegen wir zugleich all das mit, was während dieser vermeintlich belanglosen Verrichtungen und Unternehmungen unterschwellig abläuft: dass Sophie Reife zeigt und Verantwortung übernimmt, indem sie im Hotelzimmer aufräumt; wie Calums Blick ins Leere schweift, nachdem er sich so lange zusammengerissen hat; sowieso die enge Bindung zwischen den beiden, aber auch die schwelenden Konflikte; und eben: dass etwas nicht in Ordnung ist.
 
Oscar-nominierter Hauptdarsteller
 
Dass wir all diese emotionalen Nuancen und noch die feinsten Gefühlsregungen derart gut wahrnehmen, ist freilich auch dem versierten und dabei erfrischend natürlichen Spiel der 12-jährigen schottischen Debütantin Frankie Corio und des 26-jährigen irischen Shootingstars Paul Mescal geschuldet. Mescal, recht überraschend und vollkommen verdient für den Oscar nominiert, ist für diese Rolle zwar ein klein bisschen zu jung, so wie er für seinen Part in der schlicht wundervollen Miniserie «Normal People» ein ganz wenig zu alt war. Das jedoch ist damals zu keiner Sekunde ins Gewicht gefallen und tut es auch jetzt nicht. Denn Mescal ist nicht nur ein überbordend talentierter Schauspieler; er ist auch ein ausufernd einnehmender Typ, sympathisch und zugänglich dank seiner Normalo-Art und der ungewohnt unauffälligen, fast ein wenig plumpen Erscheinung, dabei aber sanft und sensibel und von einer in die Tiefe gehenden Vielschichtigkeit, die bei einem so jungen Schauspieler frappant ist. Er weiss hier aber auch eine Regisseurin hinter sich, die ihn seine Stärken ausspielen lässt und mit ihrer unaufgeregten Art dafür sorgt, dass er sich seinen Fertigkeiten entsprechend entfalten kann. Unaufgeregt meint hier freilich nicht unspektakulär. Das ist Wells’ Inszenierung mitnichten; einige Aufnahmen sind sogar atemberaubend, und der Mix ist klug abgestimmt: von fein kolorierten sonnengetränkten Sommerbildern über akkurat arrangierte Nachtimpressionen bis zu dem einen oder anderen surrealen Schnipsel. Ein Wechselbad also, das die innere Befindlichkeit des tragischen Helden nach aussen kehrt, der einmal sagt, er könne sich nicht mit 40 vorstellen und sei schon überrascht, dass er es überhaupt bis 30 geschafft habe. Weil er das so lakonisch und freundlich sagt indes, erfassen wir die Tragweite seiner Worte in dem Moment erst nicht. So wie wir die Pracht dieser so hoch originellen, tief berührenden, leicht fliessenden und schwer beeindruckenden Meditation über das Erinnern womöglich nicht auf Anhieb begreifen. Doch eines ist gewiss: «Aftersun» wird laut und lang nachhallen.