Der Mensch im Monster

Im aus der Perspektive eines Pädophilen erzählten Drama «The Woodsman» werden Drehbuchschwächen durch die Regie und eine bravouröse Leistung von Hauptdarsteller Kevin Bacon kompensiert.

 

von Sandro Danilo Spadini

«Damaged goods», beschädigte Ware, sei er, dieser Walter (Kevin Bacon), warnt die missgünstige Mary-Kay (Hip-Hopperin Eve) ihre sich für den schweigsamen Neuen im Betrieb interessierende Arbeitskollegin Vicki (Kyra Sedgwick), «really damaged». Dass mit Walter etwas nicht stimmt, dass er ein Geheimnis hütet, hat Vicki aus dessen einsilbigen, zweideutigen Äusserungen freilich bereits selbst herausgehört; eine Vorstellung vom Ausmass der Last und Dunkelheit dieses Geheimnisses hat sie indes nicht. Als sie erfährt, was der Zuschauer schon weiss, fängt sie denn auch an zu kichern – im Glauben, in der Hoffnung, ihr Geliebter habe sich einen geschmacklosen Scherz erlaubt. Doch ein Blick in Walters Augen genügt, um diese Hoffnung im nächsten Augenblick zunichte zu machen. Es ist wahr: Walter war zwölf Jahre wegen Kindesmisshandlung, wegen Pädophilie, wegen des schrecklichsten aller Verbrechen in Haft. Walter ist nicht bloss «damaged goods». Er ist krank. Ein Monster.

Perspektive des Täters

Dass die Dinge aber auch bei einer in ihrer Ungeheuerlichkeit und Abscheulichkeit kaum zu begreifenden Tat eine Kehrseite haben, schickt sich Regisseurin Nicole Kassell in «The Woodsman» an zu zeigen. Ihr eindringliches Debüt ist der gewiss gewagte Versuch, sich mit dem Thema Kindesmisshandlung aus der Sicht des Täters zu befassen. Dialogintensive Passagen – die wiederkehrenden Gespräche mit dem Therapeuten, dem Schwager, der Geliebten und dem misstrauischen Inspektor – stehen dabei im steten Wechsel mit kurzen Szenen, die gänzlich Walters Perspektive einnehmen, ihn alleine und isoliert zeigen. Im Bus, wo er seinen Blick von den kleinen Mädchen abzuwenden versucht, am Arbeitsplatz, wo er zunehmend unter Druck gerät, oder in seiner Wohnung, die ausgerechnet gegenüber einem Schulhof liegt. Es sind dies Sequenzen, die ohne Worte den Kampf gegen die inneren Dämonen zeigen, der allmählich nach aussen getragen wird, wenn Walter von seiner Wohnung aus einen potenziellen Kinderschänder zu beobachten beginnt. Es sind dies aber vor allem auch Sequenzen, die mittels kühler Bilder, betäubender Musikuntermalung und Bacons Körpersprache Einsamkeit, nackte, frostige, finstere Einsamkeit vermitteln, derweil die Regie meist die Distanz wahrt und nicht um Verständnis oder Vergebung für Walter bettelt. Eine Ahnung von Unheil, ein Anflug von Bedrohung schwingt dabei konstant mit, auch Trostlosigkeit und die Gewissheit, dass Walter nie, wie er hofft, «normal» werden wird, dass er seine Krankheit bloss leidlich unterdrücken können, sie nie jedoch zu überwinden vermögen wird.

Wie aus einem Guss

Inszeniert ist «The Woodsman» trotz des Wechselspiels zwischen Zwiegespräch und Selbstreflexion mit grösstmöglicher Geschlossenheit, was dem Film bisweilen eine gleichsam hypnotische Note gibt. Beeindruckend ist es, welch meisterhafte Stilsicherheit Nicole Kassell bei ihrem Erstling an den Tag legt, wie konsequent sie im Umgang mit dem heiklen Thema der lauernden Plakativität aus dem Weg geht, indem sie sich einer selten spektakulären, aber umso effizienteren Bildsprache bedient. Deutlich wird dies etwa beim Farbenspiel, mag es auch als triviale Symbolik abgetan werden, wenn in die Dominanz der winterlich-matten, die innere Befindlichkeit Walters widerspiegelnden Töne plötzlich das saftige, Gefahr signalisierende Rot eines vom Schulhof rollenden Balls oder der Jacke eines Mädchens tritt. Nicht ganz Schritt zu halten mit der insgesamt gleichwohl kaum infrage stehenden Subtilität der Regie – und Kevin Bacons Spiels – vermag indes das von Kassell mitverfasste Skript. Präsentiert sich die Inszenierung wie aus einem Guss, ist wohl auch bei der Handlung alles im Fluss, doch ist mitunter eine gewisse Zurückhaltung zu spüren, die Angst vielleicht, sich am heissen Eisen zu verbrennen, wodurch eine eingehendere Beschäftigung mit der Thematik verhindert wird; wenig überzeugend wirkt zudem die in einer etwas zu einfach gestrickten Schlüsselszene vermittelte Selbsterkenntnis Walters, in Folge derer am Ende doch noch ein kleiner Hoffnungsfunken zündet und etwas vehementer als zuvor für eine zweite Chance plädiert wird. Letztlich aber überlässt es Kassell dennoch dem Zuschauer, zu entscheiden, ob er Walter diese zweite Chance geben will. Jetzt, da er den Menschen im Monster gesehen hat.