von Sandro Danilo Spadini
Otto (Nikolaj Lie Kaas) hat etwas Sensationelles herausgefunden: Zusammen mit Lennart (Lars Brygmann) hat er einen Algorithmus entwickelt, der besagt, dass sich Menschen aus tieferen
Einkommensschichten eher einen Kia und Angehörige der Oberschicht eher einen Mercedes anschaffen. Ein monumentaler Erkenntnisgewinn, keine Frage, bahnbrechend und wegweisend. Doch erntet er etwa
staunendes Lob und sprachlose Anerkennung, als er diese herzhaften Früchte seiner Arbeit auf der Teppichetage präsentiert? Natürlich nicht! Vielmehr fragen diese nörgelnden Kleingeister, wie viel
Zeit er dafür aufgewendet habe (46 Wochen) und was sie damit anfangen sollten (die Zukunft voraussagen). Und am Schluss der Szene, die sich in der Kennenlernphase von Anders Thomas Jensens
«Riders of Justice» abspielt, ist Otto dann
gefeuert und hockt mit einer Kartonschachtel im Schoss in der U-Bahn. Wider jede Wahrscheinlichkeit ist das freilich noch nicht das Schlimmste, was ihm an diesem Tag widerfährt. Denn kurz nachdem
er kavaliersmässig seinen Sitzplatz einer Dame überlassen hat, kommt es zum Crash, Hunderte Menschen sterben, inklusive besagter Dame, derweil er und deren Tochter mit ein paar Kratzern
davonkommen. Glück im Unglück, vielleicht auch Schicksal mag man das nennen – das heisst, falls man nicht so ist wie Otto, der den Dingen gern auf den Grund geht und ausschliesslich in
Wahrscheinlichkeiten denkt. Und so rechnet er also aus, dass die Chance, dass das grundlos geschehen ist, bei 1:234'287'121 liegt. Weil: In der U-Bahn sass ihm gegenüber so ein Typ, der als
Kronzeuge im Prozess gegen eine Biker-Gang hätte aussagen sollen. Das kann kein Zufall sein, nie im Leben, sagt der Statistik-Nerd und rennt erst zur Polizei, die nicht so empfänglich ist für
seine Theorie, und endlich mit Lennart im Schlepptau zu Markus (Mads Mikkelsen): dem Gatten der Frau aus der U-Bahn, einem harten Kerl, der in Afghanisten dient und mit seiner traumatisierten
Teenagertochter Mathilde (Andrea Heick Gadeberg) jetzt nicht über Gefühle reden, sondern lieber noch ein Bier trinken möchte. Otto und Lennart allerdings hört er nun genau zu. Sehr genau. Und für
ihren Plan, die Biker-Gang eigenhändig zur Strecke zu bringen, ist er Feuer und Flamme.
Versehrte Seelen
Auch Markus ist indes durch und durch Rationalist, sagt der Tochter, sie solle vergessen, was die Pfarrerin bei der Beerdigung gesagt habe, die Mama sei jetzt nicht bei Gott und den Engeln,
sondern nichts mehr, basta! Ein komischer Kauz auch er. Oder um es in Mathildes Worten zu sagen: «ein verdammter Psycho». Aber nichts im Vergleich zu diesem Lennart. Lennart sei gut darin, Sachen
zu finden, sagt Otto. Sprich: Er ist ein begnadeter Hacker. Aber das sei nicht illegal. Oder nicht sehr illegal, meint Lennart, der in seinem Leben schon 4000 Stunden auf der Couch eines
Psychiaters verbracht hat. Im Grunde scheint das aber ein zwar zutiefst gestörter, doch ganz liebenswerter Kerl zu sein. Meint man zumindest, bis mit einem gewissen Emmenthaler (Nicolas Bro) sein
ihn zur Weissglut treibender Intimfeind die Bühne betritt: ein latent aggressiver, fettleibiger Biometrik-Experte mit sensibler Tränendrüse und lamentablen sozialen Fertigkeiten. Verglichen mit
ihm wirken die anderen dann fast wieder normal. Zumindest Mathildes klugscheisserischer türkishaariger Hipsterfreund Sirius (Albert Rudbeck Lindhardt) und der ukrainische Stricher Bodashka
(Gustav Lindh), der im Verlauf des bald eskalierenden Rachefeldzugs auch noch dazustösst. Summa summarum könnte das Personal von «Riders of Justice» mithin schrullig nennen, wenn das nicht
dermassen krass untertrieben wäre. Oder man könnte es als einen Haufen comichaft überzeichneter Witzfiguren abtun, wenn sie nicht alle solch versehrte Seelen wären, deren Traumata nach und nach
an die Oberfläche dringen – und wenn sie von ihren Darstellern nicht derart herzerfrischend und seelenerwärmend verkörpert würden. Die meisten von ihnen waren schon in den früheren vier Filmen
von Anders Thomas Jensen («Adam’s Apples», «Flickering Lights») mit von der Partie, und nicht nur die Vertrautheit, auch die Wiedersehensfreude scheint hier geradezu spürbar gross zu sein. Dafür
ist dann das Erscheinungsbild zumal der beiden prominentesten Stars ziemlich unvertraut: Mads Mikkelsen ist mit Bürstenschnitt und grauem Rauschebart kaum wiederzuerkennen, und bei Nikolaj Lie
Kaas’ Zerstreuter-Professor-Look erinnert so gar nichts mehr an den Ermittler Carl Mørck, den er bis zu seinem Ausscheiden aus der Filmserie viermal gegeben hat. Freilich schauen die beiden nicht
nur einfach anders aus; sie beweisen auch schauspielerisch eine stupende Wandelbarkeit und präsentieren sich hier von einer gänzlich ungewohnten Seite. Ganz grosses Kino ist das.
Die Mischung machts
Doch sosehr «Riders of Justice» von den skurrilen Figuren und den spielfreudigen Darstellern leben mag – dieser krude Genremix hat noch weit mehr zu bieten, was ja bei einem Könner wie Jensen
jetzt nicht völlig überraschend kommt. Die fast zwei Stunden Spielzeit vergehen hier wie im Flug, weil das einfach genial geschrieben ist von Jensen: voller Absurditäten wie Sushi mampfender
Biker und improvisierter Psychotherapiestunden und mit pechschwarzem Humor und launigen Stakkatodialogen, aber eben auch mit einem raffinierten Plot und Trips ins Philosophische, wo anregend über
Zufall, Schicksal und Wahrscheinlichkeit sinniert wird. Auf die Länge funktioniert das aber nur, weil «Riders of Justice» nebst einer grossen Klappe ein ebenso grosses Herz hat. Statt weiter
auf der Coen- oder Tarantino-Schiene zu brettern und vollends jenem zynischen Nihilismus zu frönen, der in den nicht gerade unzimperlichen Gewaltexzessen unserer gerechten Rächertruppe durchaus
durchdringt, umarmt Jensen seine Helden und lässt sie auch mal in gar nicht falscher Sentimentalität suhlen. Indes sind auch die melancholischen Momente, wenn die ernsthaft tragischen
Background-Geschichten dieser Aussenseiter und Ausgegrenzten angeschnitten werden, noch unterwandert von einem subversiv trockenen Humor. Das ist Jensens Methode: Wenn es zu ernst, zu heiss, zu
laut, zu krud, zu krass wird, folgt der Bruch. So ist denn diese Rache hier auch nicht süss und kalt serviert, sondern kompliziert und bitterlich errungen und entsprechend frei von dem
Geschmäckle, das dem Genre des Selbstjustiz-Thrillers eigentlich per se innewohnt. Mit anderen Worten: Die Mischung machts. Und das muss nicht zuletzt am Ende auch unsere Schicksalsgemeinschaft
erfahren, wenn sie tatsächlich mit dem Zufall Bekanntschaft macht.