Neue Jäger und Gejagte in Coen County

Die Academy hat entschieden: Die düstere Mörderballade «No Country for Old Men» der Gebrüder Coen ist der beste Film des Jahres 2007. Und damit könnte die Academy richtig liegen.

 

von Sandro Danilo Spadini

Eigentlich ist «No Country for Old Men» ein untypischer Coen-Film. Untypisch insofern, als er ausgesprochen düster ist, keinen der vielen Lieblingsschauspieler der Gebrüder aus Minnesota auf der Besetzungsliste führt und seine Geschichte aus der fremden Feder Cormac McCarthys stammt. Dann wiederum ist «No Country for Old Men» ein typischer Coen-Film. Typisch insofern, als die meisten Figuren weniger menschliche als vielmehr comichafte Züge tragen, es um gesetzesunkonforme Handlungen geht und dem rabenschwarzen Humor bei maximalem Dialogwitz ein gewisser Stellenwert zugestanden wird. Typisch schliesslich auch insofern, als es sich hierbei um einen brillanten Film handelt, ja um den besten der Coens seit «The Big Lebowsky» und um den besten schlechthin des Jahres 2007, will man dem Urteil der Oscars verschenkenden Academy vertrauen.

Langsam erzählt

Im Grunde kehren Joel und Ethan Coen mit ihrem neusten Werk zu den Wurzeln zurück, genauer: zu ihrem Debüt «Blood Simple» aus dem Jahr 1984, das überdies aus ähnlichen Gründen wie «No Country for Old Men» bislang eine Sonderstellung im Œuvre der Coens einnahm. Die augenfälligsten Parallelen zwischen den beiden Krimiballaden sind gewiss das finstere Szenario sowie das gemächliche Erzähltempo; der in den Weiten von Westtexas angesiedelte Plot des Zweistünders «No Country for Old Men» lässt sich entsprechend knapp zusammenfassen: Ein Verlierertyp (Josh Brolin) stösst beim Jagen in der Wüste nahe dem Rio Grande auf eine aus einem verunglückten Drogendeal resultierte Leichenansammlung und einen Koffer mit zwei Millionen Dollar. Dem neckischen Lachen der Marie erlegen, packt er sich kurzerhand den Schatz und zieht von dannen. Doch noch ehe er Sapperlot murmeln und sich am Oberlippenbart zupfen kann, ist ihm auch schon ein veritabler Psychopath (verdienter Oscar für Javier Bardem) mit einem vitalen Interesse an dem vielen schönen Geld und einer sehr eigenwilligen Frisur auf den Fersen. Derweil dieser mittels einer seiner Frisur in Sachen Eigenwilligkeit in nichts nachstehenden Tötungsmethode im Nu für einen horrend hohen «Body Count» sorgt, haben auch schon der örtliche Sheriff (Tommy Lee Jones) und ein schmieriger Kopfgeldjäger (Woody Harrelson) die Verfolgung aufgenommen. Und so wird die bauernschlaue Maus fortan von einer tollwütigen Wildkatze, einem gemütlichen alten Kater und einem gierigen Büsi quer durch Texas gejagt – wobei die Jäger natürlich auch einander im Visier behalten.

Magische Momente

Dass die Coens nicht die grossen Kino-Humanisten sind, ist spätestens seit «Fargo» bekannt. Und so lassen sie denn auch in «No Country for Old Men» nicht bloss die kurzlebigen Randfiguren, sondern auch die bald schon mannigfach lädierten Protagonisten unter bisweilen blanker Schadenfreude und oft recht expliziter Brutalität immer wieder ins offene Messer laufen. Bedauernswerte Sympathieträger waren aber noch die wenigsten Coen-Helden, und es ist dies auch hier kaum einer. Hier nämlich regieren Gier und Skrupellosigkeit, Zynismus und Gewalt, Fatalismus und Egoismus. In seiner Essenz unterscheidet sich «No Country for Old Men» also nicht gross vom unterlegenen Oscar-Konkurrenten «There Will Be Blood», der im Übrigen in derselben Ecke der USA gedreht wurde. Und wie dort läuft auch beim «Best Picture» 2007 fast alles über die Figuren, ist dies doch erst mal eine Charakterstudie. So erforschen die Coens mit einer bis dato nur in «Fargo» demonstrierten Präzision das Verhalten normaler Menschen unter anormalen Umständen. Wiewohl einige der Figuren dabei Tiefe erlangen, bleiben sie aufgrund der inszenatorischen Distanz und der bewussten Überzeichnung letztlich aber gleichsam allegorisch und vermögen sich so einer nüchtern anteilnahmslosen Betrachtung nicht zu entziehen. Das mag auf dem Papier wie ein Mangel erscheinen, ist es auf der Leinwand aber mitnichten. Vielmehr steckt dahinter volle Absicht, eine klar Strategie, die sich wie ein blutroter Faden durchs coensche Œuvre zieht. Typisch sozusagen. Andererseits blitzt in einigen Szenen auch so etwas wie Mitgefühl für die urplötzlich einen Moment lang menschlich gewordenen Typen auf. Also untypisch. Was auch immer, jedenfalls ist das ein solch perfekt ausgeführter, so kohärenter Film mit dermassen vielen uramerikanischen magischen Kinomomenten, dass diese zwei Stunden recht eigentlich zu einem einzigen magischen amerikanischen Moment gerinnen. Kurzum: Besseres Kino kann man nicht machen.