von Sandro Danilo Spadini
«Es ist nur Liebe, Mann. Nichts, wovor man Angst zu haben braucht», erklärt der ältere Bruder in lupenreinem Hippie-Gestus dem leicht verstörten neunjährigen Bobby, der ihn soeben beim nicht
jugendfreien Treiben mit einem weiblichen Menschen erwischt hat. Später wird der Grosse den Kleinen auf einen LSD-Trip mitnehmen – «für die Klarheit der Sicht». Und am Ende der abschliessenden
Szene ist er dann tot, der grosse Bruder, das grosse Vorbild, und übrig bleibt nur noch seine kompromisslos lebensbejahende Geisteshaltung, die im wohlindoktrinierten Bobby selbst dann noch
weiterlebt, wenn die letzte Jefferson-Airplane-Platte längst gespielt ist, wenn auch die Mutter und schliesslich der Vater stirbt, wenn er Familie, Heim, Geborgenheit verloren hat. Inzwischen ist
Bobby halbwüchsig, cool und selbstsicher wie weiland der Bruder, an der Highschool die süssen und marihuanageschwängerten Seiten des Lebens und die Gesellschaft des schüchternen Jonathan
geniessend, dem er die Geheimnisse der geerbten Lebensphilosophie lüftet und auf dem Weg ins Nirwana die Hand hält. Jonathans Eltern (Sissy Spacek und Matt Frewer) sind es denn auch, die Bobby
nach dem Tod des Vaters bei sich aufnehmen und ihm das Verlorene zurückgeben wollen. Und Jonathan ist es, mit dem der pubertierende Liebesprediger erste sexuelle Erfahrungen sammelt und dem er
hernach sogleich das weitergibt, was er einst gelernt hat: «Es ist nur Liebe, Mann.»
Kompliziertes Beziehungsgeflecht
Man könnte die erste halbe Stunde von «A Home at the
End of the World» behäbig nennen, antiquiert in ihrer Hippie-Romantik vielleicht oder aber warm, zärtlich, liebevoll. Es ist in der Tat ein gewöhnungsbedürftiges Gemisch aus powervollen
Blumen, abgebrannten Räucherstäbchen, gerauchten Joints und Mottenkugeln, das der bislang am Theater tätige Kinoneuling Michael Mayer zu Beginn seiner Adaption des Bestsellers von Michael
Cunningham («The Hours») verströmen lässt. Etwas an Würze und Frische gewinnt sein Film freilich in der Folge, wenn der erwachsene Bobby und mit ihm drei formstarke Darsteller die Bühne betreten.
Gespielt wird Bobby nun nämlich vom irischen Raubein Colin Farrell, von einem permanent fluchenden, rauchenden, saufenden, sich in Kneipen prügelnden Mann also, der hier erfolgreich gegen sein so
sorgfältig gepflegtes Macho-Image anspielt. Einher geht mit dem neuerlichen Zeitsprung auch ein Schauplatzwechsel vom beschaulichen Cleveland ins pulsierende New York. Bobby ist mittlerweile 24
Jahre alt, noch Jungfrau und scheint sich eher zurückentwickelt zu haben. Mit staunendem und leicht debilem Blick kommt Bobby in den Big Apple, auf der Suche nach einem neuen Heim, das er beim
nunmehr selbstbewusst seine Homosexualität auslebenden Jonathan (Dallas Roberts) und dessen Wohngenossin Clare (Robin Wright Penn) findet. Was sich jetzt entwickelt und in loser Abfolge von
dialogreichen Szenen geschildert wird, ist ein zwar kompliziertes, meist aber funktionierendes Beziehungsgeflecht, in dem jeder der drei irgendwie in die beiden anderen verliebt ist, wobei die
Frage nach Hetero-, Homo- oder Bisexualität gänzlich in den Hintergrund rückt.
Hübsch, aber unentschlossen
«A Home at the End of the World» ist einer dieser Filme, die unter dem Mikroskop prächtig ausschauen. Grossartig gespielt, glänzend geschrieben, solide inszeniert ist er, intensive Momente hat
er, Form und Inhalt decken sich. Wendet man indes den Blick aufs Ganze, werden die Mängel dann aber doch offenbar. So ist etwa die Entwicklung von Bobbys Figur nicht gänzlich schlüssig; schwer
fällt es einem, die durch den zweiten Zeitsprung aufgerissene Lücke in seinem Porträt sinnvoll zu füllen. Zumal diskutabel ist überdies die Entscheidung, Bobby mit der Zeit mehr und mehr aus dem
Zentrum der Geschichte herauszunehmen und Jonathan und Clare dann und wann in den Fokus zu stellen. Von einer gewissen Unentschlossenheit ist aber auch Mayers Inszenierungsstil geprägt, dem es
bei aller Harmonie und Zärtlichkeit ganz grundsätzlich und im Besonderen beim Einfangen des jeweiligen Zeitgeists ein wenig an Finesse und Wagemut fehlt. Und so ist hier am Ende ein Film
entstanden, der die Qualität eines Joan-Baez-Songs hat: hübsch, fühlig, fragil. Ein klein wenig Gewumme und Geschrumme wären aber auch ganz willkommen gewesen.