von Sandro Danilo Spadini
Christine arbeitet als Fahrerin für einen Seniorentaxidienst und werkelt in ihrer freien Zeit an Videokunstprojekten. Schuhverkäufer Richard wurde soeben von seiner Frau verlassen und ist darob
ein wenig verloren. Sein sechsjähriger Sohn Robby sitzt die meiste Zeit vor dem Computer und tauscht mit einer Fremden in Chatrooms unschuldige Frivolitäten aus. Dessen grosser Bruder Peter hat
sich in ein Mädchen aus der Schule verliebt und pubertiert auch sonst munter vor sich hin. Die beiden Girlies Heather und Rebecca bezirzen einen lustmolchigen Nachbarn und spekulieren über Sex.
Christine, ihre Senioren, Richard, seine Ex-Frau in spe, Robby, seine erwachsene Chat-Partnerin, Peter, das Mädchen aus der Schule, Heather, Rebecca und der lustmolchige Nachbar sind die nicht
reichen, nicht schönen Protagonisten von «Me and You
and Everyone We Know», dem Spielfilmdebüt der Performance-, Video- und Soundkünstlerin Miranda July. Sie könnten eigentlich alles ganz normale Leute sein. Doch wer ist schon normal, wenn man
genau hinschaut? Miranda July schaut ganz genau hin und gibt die Antwort mit verständnisvollem, mitfühlendem und bisweilen verschmitztem Lächeln: sicher nicht Christine und Richard, die beide
träumend, schlafwandelnd durchs Leben gehen und als Seelenverwandte irgendwann zueinander finden müssen. Sicher nicht Heather und Rebecca, zwischen denen ein absurder, für Peter aber durchaus
profitabler Wettstreit um die jeweiligen Oralsexkünste entbrennt. Sicher nicht Robby. Sicher nicht der Nachbar. Sicher kaum jemand in diesem Film.
Aufrichtiger Optimismus
Es ist das Poetische und mitunter vielleicht Magische im Kleinen, das July in ihrem mehrfach (etwa in Sundance) preisgekrönten Erstling sucht und oft genug findet. In unaufgeregten Bildern und
ruhigem Ton feiert sie die kleineren und grösseren Wunder im Alltäglichen, dokumentiert das komplizierte Zueinanderfinden in der digitalen Welt der indirekten Kommunikation, das meist unbedarfte
Herausfinden und -winden aus der Isolation und Entfremdung; fern jeglichen reisserischen Gebarens zeigt sie auf, wie Einsamkeit allmählich zu sexueller Degenerierung oder dem Verlust der
Sozialkompetenz führen kann; immer am Puls des Zeitgeists erforscht sie die Angst vor Nähe, vor potenziellem Glück, schildert den häufig aussichtslos erscheinenden Kampf, die richtige Person zu
finden, ruft auf zum Mut, es zuzulassen, wenn es so weit ist, und die Welt nicht in die Quere kommen zu lassen. All diesem Feiern, Dokumentieren, Aufzeigen, Erforschen, Schildern und Aufrufen
wohnt ein derart aufrichtiger Optimismus, eine solch lebensbejahende Ehrlichkeit inne, dass man mit den vermeintlich oder tatsächlich nur wenig Identifikationspotenzial bietenden Figuren einfach
mitleiden und mitlieben muss. Trotz des sehr künstlerischen Ansatzes und der Kurztrips ins Philosophische ist das alles emotional höchst vereinnahmend, zumal es hier nicht der verkniffene,
analytische Blick durch die Hornbrille ist, den July auf das oftmals nicht so pralle zeitgenössische Leben richtet. Erzählt wird die anfangs einigermassen verschlungene, bald sich entwirrende
Geschichte freilich auch nicht aus der Vogelperspektive; vielmehr nähert sich July – auf Zehenspitzen – den zu gleichen Teilen von Furcht und Hoffnung getriebenen Figuren, bleibt als Regisseurin
aber unauffällig im Hintergrund und wirkt so nie wie ein Eindringling. Sie mischt sich unter die Leute – und das ist durchaus wörtlich zu nehmen, spielt sie doch gleich selbst die
(autobiografische?) Rolle der Christine, der zentralen Figur, in deren Videokunst der Subtext des Films fett unterstrichen wird.
Konstruierte Wirklichkeit
Wie Christine konstruiert July Realitäten, verfremdet, überzeichnet, verformt – alles im Dienste einer neuen, einer allumfassenden, einer «höheren» Wirklichkeit: Das Beiläufige wird neu
kontextualisiert, wird zum Wesentlichen; der Mikrokosmos von «Me and You and Everyone We Know» wird zur Welt von mir und dir und jedem, den wir kennen; Geschwätziges wird signifikant, wird
erhellend; und Typen werden zu Charakteren – trotz schauspielerisch nicht unwiderstehlicher Leistungen von July oder John Hawkes («Deadwood») als Richard. In ihrer Umständlichkeit strapazieren
diese Charaktere wohl des Öfteren die Nerven des Betrachters, doch sie tun dies, wie July ausführt, «weil sie nicht sicher sind, ob am anderen Ende der Strasse, der E-Mail, des Signals, auf der
anderen Seite des Tages, der auf die Fantasie folgt, tatsächlich jemand auf sie wartet».