von Sandro Danilo Spadini
Das hatten wir jetzt aber auch noch nie: dass uns eine Darstellerin hinter den Kulissen vor einer Set-Konstruktion begrüsst. Das, was folge, sei zwar ein Film namens
«The Wonder», sagt Niamh Algar da; doch die Leute
darin glaubten inbrünstig an die erzählten Geschichten. Denn: «Wir sind nichts ohne Geschichten.» Okay, ein Film namens «The Wonder» also, die Adaption des gleichnamigen Bestsellers von
«Room»-Autorin Emma Donoghue, um genau zu sein. Das allerdings hätten wir auch aus einem kommunen Vorspann erfahren können. Fragt sich mithin, was der chilenische Regisseur Sebastián Leilo (Oscar
für «Una mujer fantástica») damit signalisieren will. Abgesehen davon, dass das ein grauenhaft prätentiöser Kunstgriff ist. Nun: Es wird sein Geheimnis bleiben, auch wenn die sogenannte vierte
Wand noch zweimal – einmal in der Filmmitte und dann zum Schluss nochmals – durchbrochen werden wird. Ein Vorbote ist dieser spleenige Start indes durchaus: Das Wichtigtuerische ist Leilos
Historienthriller um ein irisches Fastenmädchen und eine englische Krankenschwester in der Tat nicht fremd. Doch gibt es (fast) genug Dinge hier, die einen darüber hinwegsehen lassen.
Kampf für die Fakten
Der Schauplatz sind die windig-rauen, stets wolkenverhangenen irischen Midlands, die Zeit ist das Jahr 1862 – freilich würde man auch nicht allzu gross stutzen, wenn Leilo einem weiszumachen
versuchte, wir befänden uns hier im Mittelalter; so archaisch wirkt das, so altertümlich scheinen Land und Leute. Diese Leute, sie sind derzeit mächtig in Aufruhr, in ekstatischer Wallung fast.
In ihrer Mitte nämlich ereignet sich gerade ein Wunder, ein nichts weniger als göttliches Wunder: Das Mädchen Anna O’Donnell (Kíla Lord Cassidy) hat seit ihrem elften Geburtstag keine Nahrung
mehr zu sich genommen; und obwohl ihr Jubeltag schon vier Monate her ist, geht es ihr prächtig. Mittlerweile hat sich das auch schon ziemlich rumgesprochen; das Dorf wird überschwemmt von
Schaulustigen. Sie sei ein Juwel, eben ein Wunder, sagt eine dieser «Besucherinnen», die von überall her kommen, um Anna zu sehen. «Das ist unmöglich», meint hingegen die englische
Krankenschwester Lib Wright (Florence Pugh), die aus London herbeigerufen wurde, um Anna auf Schritt und Tritt zu begleiten, sie auf Herz und Nieren zu untersuchen und die mirakulösen
Geschehnisse nach Ablauf ihres zweiwöchigen Einsatzes entweder zu erklären oder zu entkräften – oder, wie praktisch alle in dem von frenetischem Glauben beseelten Dorf hoffen, zu bestätigen.
Lib ist eine zupackende Frau, unwirsch mitunter und bisweilen nachgerade burschikos. Mit dem Glauben hat sie es nicht so; sie fühlt sich den Fakten verpflichtet, dem Rationalen, dem Beweisbaren.
Dass sie schwer traumatisiert ist und sich am Abend in ihrem Zimmer mit Opium betäuben muss, ist eine andere Geschichte. Jedenfalls aber weiss auch sie, was Verlust ist, so wie die Bewohner des
Dorfs, das noch immer gezeichnet ist von der «Great Famine», der Grossen Hungersnot, der zwischen 1845 und 1849 eine Million Menschen in ganz Irland zum Opfer fielen. Das mag erklären, weshalb
vom Arzt (Toby Jones) bis zum Priester (Ciarán Hinds) alle dieses Wunder mit blindem Fanatismus verteidigen – entschuldigen kann es aber mitnichten, dass sie willens sind, für ihre feurige
Frömmigkeit andere brennen zu lassen; dass sie bereit sind, das höchste Gut von allen, das Leben eines Kindes, auf den Opferscheiterhaufen zu werfen, um ihre Sicht der Dinge, ihren Glauben, ihren
Aberglauben, ihren Irrglauben durchzusetzen. Und das bringt Lib – als Frau der Wissenschaft, als Mutter eines toten Kindes – natürlich in Rage, versetzt sie in Ohnmacht, aus der ihr auch der
ebenso skeptische Journalist William Byrne (Tom Burke) keinen Ausweg aufzeigen kann. «Sie kennen uns nicht, sie verstehen uns nicht», bekommt sie immer wieder zu hören. Das mag stimmen. Aber
tatenlos zuschauen, das wird sie deswegen trotzdem nicht. Denn Fakten sind Fakten. Und Fakt ist: Anna wird bald sterben.
Ein uneingelöstes Versprechen
Fulminant geht es los in «The Wonder» nach der fragwürdigen Einführung, mit stramm arrangierten und farblich sorgfältig durchkomponierten Aufnahmen von «The Power of the Dog»-Kamerafrau Ari
Wegner. Die reinsten Gemälde sind das und damit das pure Gegenteil dessen, was «Frauenregisseur» Leilo etwa in dem in jeder Hinsicht farblosen Liebesdrama «Disobedience» (2017) angeboten hat,
seinem ersten von nunmehr drei englischsprachigen Filmen. Leider aber bleibt das (auch) stilistisch dann eher ein uneingelöstes Versprechen; übermässig viel Wucht hat der Film im weiteren Verlauf
seiner 108 Minuten nämlich nicht mehr auf Lager, dafür viel vom Gleichen: Szenen draussen auf dem Feld, immer windig, meist wolkig, aber nie stürmisch. Szenen drinnen im Haus, karg ausgeleuchtet,
schlicht ausstaffiert. Und Szenen vor dem Rat der vermeintlich Weisen in der stets gleichen Anordnung. Die Stimmung ist zwar recht gespenstisch, wozu auch der experimentelle Soundtrack des
britischen Elektromusikers Matthew Herbert seinen Teil beiträgt. Doch würde man sich wünschen, dass Leilo seine Selbstbeherrschung öfter ablegt, sich mehr gehen lässt, tiefer in den Wahn
eintaucht und sich stärker zur Dunkelheit hinwendet. So aber bleibt die perfekt besetzte Hauptdarstellerin Florence Pugh das einzige echte Ass des Films. Die 26-jährige Engländerin hat seit ihrem
Durchbruch vor sechs Jahren in «Lady Macbeth» mehrmals nachgewiesen, dass sie zu den auffälligeren, den spezielleren Miminnen ihrer Generation gehört, und auch bereits eine Oscar-Nominierung
ergattern können. Hier nun übernimmt sie von der ersten Minute an das Kommando und offenbart eine Präsenz, die zwar raumgreifend ist, aber doch auch ihren Mitstreiterinnen Platz zur Entfaltung
lässt, was sowohl die 13-jährige Kíla Lord Cassidy als auch ihre (Film-)Mutter Elaine Cassidy (Felicia’s Journey») zu nutzen wissen. Schade nur, dass sie nicht mehr Spannendes zu tun bekommen.