Und Hollywood bleibt stumm

Zu den aktuellen politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen scheint die Filmindustrie nichts zu sagen zu haben. Nur konsequent, wird sie am nächsten Sonntag voraussichtlich einen Film zu ihrem jahresbesten küren, der praktisch ohne Worte auskommt.

 

Von Sandro Danilo Spadini


Verliesse man nie je das Dunkel des Kinosaals, man würde vermutlich nicht darauf kommen, dass die richtige Welt gerade recht entscheidende Zeiten erlebt. Schon gar nicht, wenn man sich nur die in der Oscar-Kategorie «Bester Film» versammelten Höhepunkte des jüngsten Filmschaffens anschaute. Arabischer Frühling? US-Präsidentschaftswahlkampf? Fukushima? Ursache und Wirkung der Finanzkrise? Die Welt der bewegten Bilder hat zu diesen bewegenden Themen im Jahr 2011 kein oder kaum ein Wort zu sagen gehabt. Doch nicht nur sucht man unter den heuer neun Kandidaten in der Oscar-Hauptkategorie die politisch und gesellschaftlich relevanten Werke vergeblich; auch fehlen die künstlerischen, intellektuellen, zeitgeistigen oder materiellen Schwergewichte. Zu finden auf der Bestenliste ist diesmal also kein konzeptionell so stupendes Werk wie «Inception»; kein psychologisch so fundiertes wie «The Hurt Locker»; kein analytisch so messerscharfes wie «The Social Network»; kein technisch so revolutionäres wie «Avatar».


In der eigenen Welt


Vielmehr war 2011 das Kinojahr der zutiefst sympathischen Filme: von «Hugo» (11 Nominierungen), «The Artist» (10), «The Descendants» (5) und «Midnight in Paris» (4). Samt und sonders wunderbare Werke sind das, und alle spielen sie sich in ihrer eigenen Welt fernab von den Verwerfungen der ruppigen Realität ab: ersterer und letzterer Kandidat in einem fantastischen Paris des frühen 20. Jahrhunderts, der zweite zur selben Zeit in der Traumfabrik von Hollywood und der dritte, nun ja, im märchenhaften Hawaii. Anstatt Antworten auf die drängenden aktuellen Fragen zu liefern, bieten diese Filme durchaus willkommene Ablenkung und Zerstreuung. Eingedenk des so hohen historischen (Selbst-)Bewusstseins der Academy überrascht es nicht, dass dabei jene zwei Produktionen die Nominierungskönige sind, die dies mit einem nostalgischen Blick zurück zu den Anfängen des Kinos tun: Martin Scorseses 3-D-Kinderfilm «Hugo» und die französische Stummfilm-Tragikomödie «The Artist». Dass das von Alexander Payne inszenierte George-Clooney-Vehikel «The Descendants» einen der beiden noch abfangen wird, ist aber keineswegs unvorstellbar; dass Woody Allens «Midnight in Paris» nebst dem Drehbuchpreis auch den Hauptpreiss gewinnen wird, derweil ausgeschlossen.


Verbände sind sich einig


Orakelt man, wer am Ende eines langen Abends im Kodak Theatre schliesslich jubilieren wird, schielt man ja gerne auf die jeweils im Januar von der Hollywood-Auslandpresse verliehenen Golden Globes. Doch erstens obsiegte bei den Oscars in den letzten sieben Jahren mit «Slumdog Millionaire» nur einer von 14 Filmen, die zuvor bei den Globes in einer der beiden Hauptkategorien prämiert worden waren. Und wiewohl hier heuer ziemlich sicher noch einer dazukommt, ist das zweitens kaum hilfreich, weil diese beiden Hauptkategorien im Januar mit «The Artist» und «The Descendants» je einen Oscar-Topfavoriten zum Sieger hatten. Um die Sache vollends zu komplizieren, wurde in der Regiekategorie mit Martin Scorsese und «Hugo» auch noch der dritte ernsthafte Oscar-Bewerber ausgezeichnet. Orientiert man sich also an den Golden Globes, so scheint das Oscar-Rennen weit offen. Zieht man freilich die Wahlergebnisse der Branchenverbände zurate (und das sollte man für eine Oscar-Vorhersage unbedingt tun), so ist die Sache einigermassen klar: Sowohl bei den Kritikern als auch bei den Regisseuren und den Produzenten hatte «The Artist» die Nase vorn. Und weil viele Mitglieder der beiden letztgenannten Verbände auch in der Academy sitzen, müsste es schon mit dem Teufelskerl Clooney zugehen, ginge «The Artist» nicht als grosser Sieger vom roten Teppich.


Wen die Academy mag…


Ebendiesem Clooney ist es jedenfalls zuzutrauen, dass er ein klein wenig den Spielverderber spielen wird in der grossen «Artist»-Party – indem er nämlich Jean Dujardin noch den Hauptdarsteller-Preis abjagt. Die Buchmacher sehen hier den Franzosen zwar – hauchdünn – vorne; und auch der Schauspielerverband präferierte wie die britischen Bafta-Juroren Dujardin. Doch Clooney ist nun mal ein Academy-Liebling. Gleiches lässt sich natürlich über die Favoritin bei den Damen sagen: über Meryl Streep mit ihren sagenhaften 17 Nominierungen, die dieses Jahr für ihre Rolle als Margaret Thatcher in «The Iron Lady» vorgeschlagen ist. Seit 30 Jahren und 12 Nominierungen hat die Grösste indes nicht mehr gewonnen; und auch heuer ist die Konkurrenz nicht ohne. Enormen Auftrieb mit dem Sieg beim Kritiker- und beim Schauspielerverband hat zuletzt gerade die Kampagne von Viola Davis aus «The Help» erhalten. Und weil Hollywood sich mit «The Artist» und «Hugo» ohnehin schon selbst feiert, könnte auch Michelle Williams bei ihrer dritten Nominierung zum Handkuss kommen. Sie erspielte sich ihre Nominierung schliesslich mit der Verkörperung der Leinwandlegende schlechthin: In «One Week with Marilyn» gibt die Golden-Globe-Gewinnerin die Monroe.


… und wen nicht


Klargemacht hat die Academy heuer auch wieder, wen sie nicht zu ihren Lieblingen zählt. Das irisch-deutsche Ausnahmetalent Michael Fassbender etwa hat sie – wie unverzeihlicherweise schon vor drei Jahren für «Hunger» – auch für seine provokante Rolle im Drama «Shame» ignoriert; den noch immer Oscar-losen Leonardo DiCaprio befand sie trotz Galavorstellung als FBI-Chef J. Edgar Hoover in Clint Eastwoods Film abermals als zu leicht; und dem im Vorjahr infam übergangenen David Fincher gönnte sie für «The Girl with the Dragon Tattoo» nicht einmal die dringend angezeigte Wiedergutmachungsnominierung. Noch sollte Fincher freilich nicht aufgeben – Regiekollege Martin Scorsese wurde schliesslich auch Mal um Mal übergangen, bis es dann doch noch klappte. Gut möglich, dass es ihm heuer sogar ein zweites Mal reicht. «The Artist»-Regisseur Michel Hazanavicius gilt zwar als leicht favorisiert; aber längst hat die Academy Maestro Scorsese in ihr Herz geschlossen.


Und der beste Film


Ein Glück übrigens, wird in «The Artist» nicht gesprochen. Sonst müsste sich die französische Produktion um den Preis als bester nicht englischsprachiger Film bewerben, und dass sie dort reüssieren würde, ist gar nicht mal so klar. Denn in dieser Kategorie findet sich der vielleicht beste Film des Jahres: das iranische Familiendrama «A Separation». Dass das Meisterwerk von Asghar Farhadi auch tatsächlich prämiert wird, ist trotz lässlicher Konkurrenz in dieser Kategorie freilich alles andere als sicher. Notorisch hat die Academy zuletzt gerade beim «Ausland-Oscar» die interessierte Öffentlichkeit brüskiert – und noch den sichersten Tipp zunichtegemacht.


Die Favoriten

Bester Film
The Artist dürfte die Oscars leerfegen und am Ende des Abends auch den Hauptpreis abstauben.

Regie
Michel Hazanavicius sollte anders als bei den Golden Globes auch Martin Scorsese überflügeln.

Bester Hauptdarsteller
George Clooney könnte Jean Dujardin ausstechen und «The Artist» den Volltriumph vermiesen.

Beste Hauptdarstellerin
Meryl Streep ist nach zuletzt 12 (!) ungekrönten Nominierungen einfach mal wieder an der Reihe.

Bester Nebendarsteller
Christopher Plummer (82) wird neu der älteste je Oscar-prämierte Mime heissen – so viel ist klar.

Beste Nebendarstellerin
Octavia Spencer dürfte auch ihre «The Help»-Kollegin Jessica Chastain übertrumpfen.