Nach dem schlimmsten Tag die Suche nach dem Sinn

Die Jonathan-Safran-Foer-Verfilmung «Extremely Loud & Incredibly Close» betrachtet die Katastrophe von 9/11 im Rückspiegel und durch Kinderaugen – und sieht so weniger als erhofft.

 

von Sandro Danilo Spadini

Erst ist es grau auf der Leinwand. Einfach grau. Doch dann erkennen wir darin den Himmel. Denn bald sehen wir einen Mann in diesem Grau – kopfüber, im freien Fall. Kurz darauf eine Beerdigung, mit einem leeren Sarg. Leer ist der Sarg, weil die Leiche unauffindbar ist. Weil sie sich buchstäblich in Luft aufgelöst hat am 11. September 2001. Der Sohn des Mannes, der in Superzeitlupe kopfüber durch das Grau flog und der jetzt nicht im Sarg liegt bei seiner eigenen Beerdigung – der Sohn (Thomas Horn) dieses Mannes (Tom Hanks) versteht das nicht, versteht das alles nicht, versteht nicht, warum man einen leeren Sarg beerdigt, versteht nicht, warum jemand Flugzeuge in Türme fliegt. Und dabei ist Oskar ein aufgeweckter Bursche mit einem sagenhaften Wissen. Wiewohl er etwas viel redet, gar oft schreit und geschlagen ist mit Phobien aller Art. Mühe hat Oskar, der einst ergebnislos auf Aspergers getestet wurde, auch im Umgang mit Fremden. Doch just das kann er nun üben, rund ein Jahr nach dem «schlimmsten Tag», wie er ihn nennt. Oskar ist nun nämlich wieder auf einer seiner Erkundungsexpeditionen, auf die ihn früher der Vater schickte – der Überzeugung, am Ende eine Nachricht von diesem zu finden, und der Hoffnung, ihn damit noch etwas am Leben zu halten.  

Zu Besuch bei 472 Leuten

Zu erkunden gedenkt der Elfjährige den Bestimmungsort eines Schlüssels, den er im Schrank des Vaters entdeckt hat – und das zu Fuss von daheim an der Upper West Side bis nach Brooklyn oder ins übrige New York und offenbar ohne Wissen der Mutter (Sandra Bullock). Den einzigen Anhaltspunkt liefert ihm dabei der Name «Black» auf dem Umschlag, der den Schlüssel enthielt. 472 Blacks macht Oskar mithilfe des Telefonbuchs in New York ausfindig – und allesamt wird er sie aufsuchen. Etwa zur Filmmitte erhält er dabei zwischenzeitliche Gesellschaft von einem namen- und sprachlos bleibenden alten Mann (Max von Sydow). Auch der hat unaussprechliche Dinge erlebt, ob denen er gar für immer verstummt ist: Des Bogens von 9/11 zurück zum Zweiten Weltkrieg, den Romanautor Jonathan Safran Foer («Tiere essen») in «Extremely Loud & Incredibly Close» so spant, hätte es freilich nicht unbedingt bedurft, ja er ist sogar ein wenig unpassend. Überhaupt überzeugen die Vorlage, die John Updike «sentimental», «dünn» und «monoton» nannte, und das Skript von Eric Roth («Forest Gump») leidlich. Und dass der Film von Stephen Daldry für den Oscar nominiert wurde, löste erst recht Kopfschütteln im amerikanischen Feuilleton aus. Mit Recht ist man dort, wo sich eine Tragödie wie diese ereignet hat, sensibler und fordernder, was den künstlerischen Umgang mit ihr angeht. Doch überkritisch sind die teils harschen Stimmen speziell der New Yorker Medien deshalb nicht: Die zweite Foer-Verfilmung nach «Everything Is Illuminated» findet auf Oskars realitätsferner Sinnsuche keine erhellenden Erkenntnisse und enthält zudem manche (Kitsch-) Szene von bemerkenswerter Banalität. Schwerer noch wiegt jedoch die Fehlkonzeption der Hauptfigur, die allzu oft nicht nur die Nerven ihrer Mitmenschen strapaziert.    


Der Schleier der Trauer

Am berührendsten ist der Film, wenn er zum Tag der Katastrophe zurückblendet: wenn er etwa den von den extrem nahen und unglaublich lauten Ereignissen zunächst unberührten Oskar zeigt, die Ignoranz eines Kindes halt. Was Daldry – selber im vierten Versuch erstmals nicht für den Oscar nominiert – ebenfalls gut hinkriegt, ist das Erzeugen und Aufrechterhalten einer quasi entrückten Atmosphäre: bisweilen fiebrig, manchmal wütend und stets unter einem Schleier der Trauer und bei vollem geschichtlichem Bewusstsein. Und ausserdem hat der Mann ja durchaus ein Auge für schöne Momentaufnahmen, auch wenn er jetzt nicht der grösste Poet unter den Regisseuren ist. Ganz zu packen und in den Film hineinzuziehen vermag der Engländer einen aber gleichwohl nicht. Und damit krankt «Extremely Loud & Incredibly Close» am gleichen Unvermögen wie die Vorgänger «Billy Elliot», «The Hours» und «The Reader». Zwar ist Daldry nicht gerade ein Schmusefilmer wie Lasse Hallström; doch auch seinen Filmen mit den stets schwierigen Themen würde etwas weniger Harmonie und etwas mehr Rauheit guttun.