Am Anfang war das Blut

Es war ein steiniger Weg, bis Martin Scorsese monumentales Gangsterepos «Gangs of New York» endlich das Licht der Leinwand erblickte: Herausgekommen ist ein grosser, wenn auch kein ganz grosser Film.

 

von Sandro Danilo Spadini

Fast schon legendär sind die Geschichten, die sich um die Dreharbeiten zu Martin Scorseses neustem Werk ranken. Eigentlich sollte «Gang of New York» schon vor über einem Jahr in die Kinos kommen. Doch Perfektionist Scorsese verlangte immer wieder aufs Neue Nachdrehs; zwischenzeitlich schien der Film gar nicht mehr aus der Postproduktion herauszukommen. Als es dann endlich doch so weit war, überraschte Scorsese seinen Produzenten, den machtbewussten Miramax-Chef Harvey Weinstein, mit einer rund vierstündigen Fassung. Weinstein legte sein Veto ein, Scorsese schmollte und ging schliesslich notgedrungen erneut in die Postproduktion. Munter wurde spekuliert: Wird «Gangs of New York» zu einem der grössten Flops der Filmgeschichte oder zu Scorseses Opus magnum, für das er von den Kritikerpäpsten endgültig heiliggesprochen würde?

Ungekrönter König

Als ob ein Martin Scorsese noch irgendeines Nachweises für seine Ausnahmestellung bedürfe! Dieser Mann hat schliesslich «Taxi Driver», «Raging Bull» und «GoodFellas» gedreht. Sein Platz auf dem Olymp der Filmgeschichte ist ihm auch dann sicher, wenn er bis ans Ende seiner Tage nur noch Michael-Dudikoff-Videopremieren drehen würde. Scorsese, noch ohne Oscar, ist der ungekrönte König Hollywoods. Die meisten seiner Filme sind schon heute Klassiker. Auch sein neustes Werk hat das Potenzial dazu, obwohl «Gangs of New York» dereinst – eines hoffentlich noch sehr fernen Tages – wohl kaum Erwähnung finden wird auf seinem Grabstein. Aber ein Flop? Mitnichten! Alleine schon die illustre Schar an Gefährten, die ihn auf dem steinigen Weg zur Vollendung dieses gleichsam monumentalen Projekts begleitet haben, bürgen für höchste Qualität: Ob Kameramann Michael Ballhaus, der seinem Ruf nicht bloss in der überwältigenden Anfangssequenz gerecht wird, Produktionsdesigner und Scorsese-Veterean Dante Ferretti, der bereits mit Fellini arbeitete, oder die Drehbuchautoren Jay Cocks («The Age of Innocence»), Steven Zaillian (Oscar für «Schindler’s List») und Kenneth Lonergan (Regie und Drehbuch zum grandiosen «You Can Count on Me») – sie alle gehören zu den Besten ihres Fachs. Überdies übernahmen mit Leonardo DiCaprio und Cameron Diaz zwei mit reichlich Talent gesegnete Superstars die Hauptrollen vor der Kamera. Ihnen zur Seite steht der alles überragende Oscar-Gewinner Daniel Day-Lewis («My Left Food»), der erstmals seit 1997 wieder auf der Leinwand zu sehen ist.
 
Endlich Oscar?

Scorsese erzählt in «Gangs of New York» die Geschichte von der Entstehung New Yorks – unsentimental, ungeschminkt und bisweilen drastisch. Man schreibt das Jahr 1863. In den Strassen von New York tobt ein erbitterter Krieg zwischen verfeindeten Gangs. «The Hands that Built America» wird Bono im Abspann singen. Es sind dies auch schmutzige, blutige Hände; Hände wie die des Gangsterbosses Bill the Butcher (Day-Lewis), an dem sich der junge Amsterdam (DiCaprio) für den Tod seines Vaters rächen will. «Gangs of New York» enthält all die typischen Scorsese-Motive: Rache, Religion, Verrat, Familie, Liebe. Einige Längen im Verlauf der Handlung werden durch eine ungemein packende Atmosphäre ausgeglichen; Scorseses Brillanz ist während jeder der knapp 166 Minuten greifbar. Und mit dem Oscar, für den das Epos gleich 10fach nominiert ist, könnte es dieses Jahr auch endlich klappen, was nicht nur gerechtfertigt, sondern vor allem überfällig wäre. Denn «Gangs of New York» ist ein guter Scorsese-Film, aber längst nicht sein bester.