Wenn Menschen blind und hart werden

Bis zum bitteren Ende: Der iranische Regiestar Asghar Farhadi bewegt sich im theatralen Drama «The Salesman» auf vertrautem Terrain – nicht so virtuos wie im Oscar-Gewinner «A Separation», aber gleichwohl meisterhaft.

 

von Sandro Danilo Spadini

Als Erstes stürzt das Haus ein. Es bebt, bröckelt, poltert. Menschen rennen auf die Strasse. In die Nacht, in die Dunkelheit, in die Ungewissheit. Und nicht  alle werden es so leicht haben wie Rana (Taraneh Alidoosti) und Emad (Shahab Hosseini) auf der Suche nach einer neuen Bleibe. Denn diese Stadt? «Eine Katastrophe», wie Emad später meint – man solle doch alles niederreissen und neu bauen. Das habe man schon einmal getan, wird man ihm entgegnen. Und dies nun sei das Ergebnis. Eine Katastrophe, eben. Und Wohnraum zu finden in Teheran, das ist trotzdem so schwer wie anderswo, an besseren Orten, schöneren Orten. Deshalb dürfen Rana und Emad jetzt nicht wählerisch sein. Ein Freund vom Theater, wo sie gerade Arthur Millers «Death of a Salesman» aufführen mit ihnen beiden in den Hauptrollen, hat da was. Durchaus geräumig, halbwegs intakt auch, aber mit einem Makel: Es hat da zuvor «diese Frau» drin gewohnt, die jetzt ihre Sachen einfach nicht abholt, und «diese Frau», sie habe ein wildes Leben geführt. Bei ihr seien viele ein und aus gegangen. Zu viele. Zu viele Männer. Die gutbürgerlichen Nachbarn haben das nicht goutiert. Und sind nun froh, dass anständige Leute einziehen. Und auch Rana ist zuversichtlich. «Für einmal scheinen wir Glück zu haben», sagt sie und irrt.

Was so was mit einem macht

Denn als Nächstes stürzt in Asghar Farhadis «The Salesman» das Leben ein. So unvermittelt wie zuvor das Haus. Nicht in der Nacht aber. Sondern am helllichten Tag. Eine knarrende Tür nur hat es angedeutet, dieses Unheil. Es ist ein dramaturgischer Schlag ins Gesicht: die Eskalation in einer eben noch gemächlich dahinplätschernden Geschichte. Visualisieren freilich möchte Farhadi das nicht weiter. Es muss genügen, zu wissen, dass da jemand ins Bad gekommen ist und Rana attackiert hat. Ihr etwas angetan hat. Was? Wer weiss. Rana will nicht darüber reden. Und sie will keine Polizei. Zu gross die Scham. Sie wolle das nicht vor aller Welt erzählen müssen, es sei hart für sie. Körperlich ist sie wohl bald wieder auf dem Damm. Doch seelisch ist sie am Boden. War da was? War da mehr? Man weiss es nicht, man sagt es uns nicht. «Es geht mir schlecht. Ich brauche Hilfe.» Mehr ist nicht zu erfahren. Klar scheint derweil, dass Rana nicht das eigentliche Ziel der Attacke war. Dass der Täter «diese Frau» vorzufinden gehofft hatte. Und dass er schnell identifiziert sein würde, hat er doch nicht nur sein Handy am Tatort verloren, sondern auch noch sein Auto vor dem Haus stehen lassen. Ihn zu finden, das ist fortan denn auch die Triebfeder Emads, sein Lebensinhalt gleichsam. Eben hat ihn Rana noch den schönsten Mann der Welt genannt. Doch nun ist er ein anderer. Wie sie auch. Denn «The Salesman» ist eine Geschichte darüber, was so etwas mit einem macht. Wie Menschen blind werden. In ihrer Wut. Ihrer Trauer. Ihrer Ohnmacht. Statt sich Rana so anzunehmen, wie es seinem sanften Naturell entspräche, verliert Emad also bald die Geduld und annektiert ihren Schmerz. Weil er ihr Mann ist. Oder weil er ein Mann? Ein Mann, der seinen verletzten Stolz über die versehrte Seele seiner Frau stellt? Es würde nicht zu Emad passen. Aber wie gesagt: Er ist jetzt ein anderer.

Zunehmend verzweifelt

Anders ist nun auch der in Cannes prämierte Film (bestes Drehbuch, bester Hauptdarsteller). Als Emad beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln in dieser grau und trist präsentierten Stadt, ist Farhadi in seinem Element, auf vertrautem Terrain. Sachte steigert er jetzt die Spannung, so wie er es zuletzt auf seinem Frankreich-Abstecher im gleichfalls geheimnisumwitterten Drama «Le passé» getan hat, und steuert auf ein fulminantes Finale zu, das die Weltklasse des Oscar-prämierten Meisterwerks «A Separation» (2011) verrät. Nun drohen die Dinge abermals ausser Kontrolle zu geraten; das mit der schlimmstmöglichen Wendung hat Farhadi nämlich auch drauf. Es ist dann aber anders, als man denkt. Weil es im Leben oft anders kommt, als man es erwartet. Tricks und Schocks benötigt Farhadi indes keine, um uns zu erstaunen. Es reichen wohlplatzierte kleine Eruptionen in diesem theatralen Drama, um uns zu erschüttern, wenn Farhadi zunehmend verzweifelt an die Menschlichkeit appelliert. Denn wird man hart in seinem Hass und roh in seiner Rache, so weiss er, verlieren am Ende alle. Und es bleibt nur noch die triste Frage: Hat sich das gelohnt?