von Sandro Danilo Spadini
Der gefrorene Fluss, der diesem Wunder von einem Film den Titel gibt, ist das Erste, was man sieht. Dann der offizielle amerikanisch-kanadische Grenzübergang, schliesslich die Tafel: «Welcome to
Massena». Massena, gelegen im Bundesstaat New York, ist einer dieser Orte, wo es nichts gibt, was das Herz erquickte. Gefreutes hat hier auch Ray (verdiente Oscar-Nominierung für Melissa Leo)
schon länger nicht mehr gesehen – ein Blick in ihr abgekämpftes Gesicht genügt, um sich dessen zu vergewissern. Ray ist in der Tat am Ende oder kurz davor. Gefangen in der uramerikanischen
Schuldenfalle, in die Enge getrieben, mit dem Rücken zur Wand. Als Discountmarkt-Angestellte wartet sie auf eine Beförderung, die nicht kommt, die nie kommen wird. Mit den Zahlungen für den
Flachbild-Fernseher ist sie in Rückstand, ebenso mit jenen für das neue Containerhaus, in dem sie mit den beiden Söhnen, 5- und 15-jährig, lebt. Der Kindsvater würde eigentlich auch hier wohnen,
doch ist der wohl gerade wieder einmal gleich ums Eck im Mohawk-Reservat im gänzlich unglamourösen Bingo-Salon, wo er die kümmerlichen Restbarschaften verjuxt. Von ihm ist jetzt, wo Weihnachten
vor der womöglich bald versiegelten Tür steht, jedenfalls weder Hilfe noch Präsenz zu erwarten. Jetzt, wo es kalt ist, saukalt ist und weit und breit keine menschliche Wärme zu finden ist, die
Milderung bringen würde.
Es kann nicht gut gehen
Ein Mensch in einer solchen Situation, beschissen von allem und jedem – ein Mensch in einer solchen Situation ist halt anfällig dafür, komische Dinge zu tun, auch Dummheiten. «This is so fucking
stupid», wird Ray bald einmal zu der ebenfalls am Abgrund stehenden Mohawk-Frau Lila (Misty Upham) sagen, mit der sie kurz zuvor unsanft Bekanntschaft geschlossen hat und nun ein Zweckbündnis
eingegangen ist. Und sie wird recht behalten damit, auch wenn das Ganze, wie so oft bei solchen Verzweiflungstaten, noch relativ harmlos anfängt: mit der Aussicht auf einen von Lila vermittelten
Autoverkauf an eine Schmugglerbande. Doch sobald Ray den gefrorenen Fluss, die «grüne» Grenze zu Kanada, überquert hat, ist sie verloren, verstrickt in ein Netz krimineller Machenschaften, an dem
zynische Geschäftemacher und Verzweifelte wie sie selbst stetig weiterwirken. Statt bloss den Wagen zu verkaufen, schmuggeln sie und Lila auf der Rückfahrt die ersten beiden Personen in die USA.
Dann die nächsten. Und die nächsten. Und schliesslich die letzten beiden, beim allerletzten Mal, für den wirklich allerletzten Zahltag, den es noch braucht, um dieses Leben auf Pump endgültig in
den Griff zu kriegen. Das kann nicht gut gehen, wir wissen es, nicht in dieser Geschichte. Rau, unmenschlich rau, melancholisch, tonnenschwer melancholisch ist hier die Stimmung. Und man spürt
eine Gefahr, hat die Ahnung einer angekündigten Katastrophe, einer schlimmstmöglichen Wendung. Freilich: Das von Debütregisseurin Courtney Hunt verfasste Drehbuch hätten sie im Vorjahr kaum für
den Oscar vorgeschlagen, wenn schon von vornherein alles klar wäre.
Grosse und kleine Themen
Was Hunt mit «Frozen River» geschaffen hat, ist
notabene weit mehr als ein respektabler Erstling mit einer guten Geschichte. Die stimmungsvoll-naturalistisch inszenierte Low-Budget-Produktion – halb Thriller, halb Drama – hat vielmehr auch
jene Qualitäten, die gemeinhin einem Meisterwerk zugeschrieben werden. So kreist sie mit analytischer Präzision und sozialer Kompetenz, weder falsch sentimental noch distanziert sarkastisch,
gleichzeitig um die grossen und um die kleinen Themen: die gesellschaftlichen und die individuellen Tragödien in der Gegenwart der amerikanischen Arbeiterklasse. Den Rahmen bilden dabei – von
Hunt politisch nicht kommentierte – Fragen um ethnische Konflikte, unkontrolliertes Konsumverhalten, illegale Einwanderung, die Immobilienkrise, den steigenden Ölpreis, die Working Poor. Und wenn
Hunt bei alledem immer wieder auch ein Auge für die ungewöhnliche Umgebung offenbart, so lässt sie doch nie einen Zweifel daran, dass es ihr in erster Linie um die Menschen darin geht.