Fürsorglicher Freiheitsentzug

Im so kompetenten wie kurzweiligen Horrorthriller «Run» spinnt nicht nur Sarah Paulson, die als Helikoptermutter mit lockerer Propellerschraube ihr kränkliches Kind beinahe zu Tode beschützt. Auch der Plot ist ziemlich irr.

Ascot Elite

von Sandro Danilo Spadini

«Ich fühle mich gottverdammt grossartig», sagt Diane (Sarah Paulson) mehr als nur einen Tick zu bestimmt und in einer Art, die uns also schon in der ersten Szene des Horrorthrillers «Run» signalisiert: Mit der stimmt was nicht. Ihre Tochter Chloe (Kiera Allen) hat für diese Erkenntnis etwas länger gebraucht. Doch jetzt, wo sie 17 und begierig bereit für das College ist, reift auch in ihr allmählich der Gedanke, dass bei ihrer sich so aufopferungsvoll um sie kümmernden Helikoptermutter die eine oder andere Propellerschraube locker sein muss. Chloe war eine Frühgeburt und kam als winziges Wesen mit multiplen Gebrechen zur Welt: von Asthma über Diabetes bis zu Herzrhythmusstörungen. Seit je ist sie an den Rollstuhl gefesselt; unterrichtet wird sie von ihrer Mutter zu Hause, Kontakt zur Aussenwelt scheint sie keinen zu haben – nicht einmal ein Handy oder freien Internetzugang hat sie. Und wie sich weisen wird, ist Diane bis zum Letzten entschlossen, dass das so bleibt: dass ihr Baby bei ihr und auf sie angewiesen bleibt. Und sie fühlt sich eben gerade nicht «gottverdammt grossartig» bei der Aussicht, dass Chloe auf dem Sprung an die Universität von Washington ist, die mit dem vielversprechenden Slogan «Sei grenzenlos!» lockt. Denn grenzenlos sind hier nur Dianes Kampfmutterliebe und Beschützerinstinkt, die längst in besinnungslosen Wahn und Fanatismus umgeschlagen haben; der Rest ihrer Welt ist aufs Engste abgesteckt.

Flink und bündig inszeniert

Das Spiel auf engstem Raum, das beherrscht der indischstämmige US-Regisseur Aneesh Chaganty aus dem Effeff. Bewiesen hat er dies schon vor rund zwei Jahren mit seinem famosen Low-Budget-Debüt «Searching». Dort liess er die Suche eines Witwers nach seiner verschwundenen Teenagertochter komplett über Handy- und Computerscreens ablaufen: über Klicken, Swipen, Scrollen auf Facebook, Tumblr, Twitter und Co. Dass Chloe in «Run» abgeschnitten ist von digitalen Technologien und sozialen Medien, geht da mithin glatt als Insider-Gag durch. Ansonsten indes gibt es in diesem flink und bündig inszenierten Katz-und-Maus-Spiel in den trauten vier Wänden nicht viel zu grinsen. Dafür umso mehr zu staunen. Darüber zum einen, wie weit Diane tatsächlich zu gehen bereit ist, um den fürsorglichen Freiheitsentzug ihrer Tochter aufrechtzuerhalten. Darüber auch, wie es überhaupt hat so weit kommen können; die entsprechende Pointe gegen Ende der spartanischen 90 Minuten Spielzeit ist eine ziemliche Nummer, so viel sei verraten. Und nicht zuletzt darüber, wie souverän und elegant Chaganty hier die klassischen Genre-Topoi und -Ingredienzien kultiviert und variiert. So werden wir über die Ausstattung und die gedämpften Farben der Kostüme in einen lupenreinen Siebzigerjahre-Groove versetzt, derweil die perfiden Spielchen und die perplex schlechten Entscheidungen der Unschuldslämmer zeitlose Horrorqualitäten haben. Und dass für einmal nicht das Kind der Satansbraten ist, sondern die Mutter vom Teufel geritten wird, hat beinahe etwas Zeitgeistiges. Andererseits liegt gerade hier auch ein bisschen was im Argen: Einen sozialen Kommentar zu modernen Familienproblemen lassen sich Chaganty und sein Co-Drehbuchautor und «Searching»-Komplize Sev Ohanian dann doch nicht entlocken. Dagegen ist zwar grundsätzlich nichts einzuwenden; das ist ihr gutes Genre-Recht. Aber es hätte halt etwas zusätzliches Fleisch auf den recht rasch abgenagten Knochen gepackt. Dafür freilich hätten Chaganty und Ohanian erst die Figuren etwas gründlicher modellieren und mit Background ausstaffieren müssen.

Präsente Hauptdarstellerinnen

Aber gut, ihren Zweck erfüllen Diane und Chloe auch so und selbst wenn ihr Handeln und ihr Benehmen nicht immer gänzlich kohärent wirken. Kompensiert werden diese kleineren und letztlich lässlichen Schwächen ja von den beiden sehr präsenten Hauptdarstellerinnen. So liefert Sarah Paulson ein abermaliges Argument dafür, warum sie, in dem für Hollywood-Verhältnisse doch schon recht fortgeschrittenen Alter von 46 Jahren, momentan in Kino («Ocean’s Eight») und TV («Ratched») gleichermassen so wahnsinnig gefragt ist und gerade die beste Zeit ihrer Karriere erlebt. Und die auch im richtigen Leben auf einen Rollstuhl angewiesene junge Kiera Allen tut in ihrem beeindruckenden Debüt nichts, was einen daran zweifeln liesse, dass sie ihren Platz auf der Leinwand finden wird. Die stichhaltigste Talentprobe legt dann aber doch der just eben mal 30-jährig gewordene Aneesh Chaganty ab: Gerade dann, als man gedacht hat, jetzt habe man es aber gesehen und gecheckt, packt er noch mal den Hammer aus und bringt das Blut in unseren Adern endgültig zum Gefrieren. Das ist dann zwar so derangiert wie Diane selbst, aber halt auch: irre spannend.