Die nie heilenden Wunden

Regisseurin Cristina Comencini kümmert sich im Oscar-nominierten Drama «La bestia nel cuore» zu wenig um ihre überragende Hauptdarstellerin und verliert sich stattdessen auf Nebenschauplätzen.

 

von Sandro Danilo Spadini

Sie ist schön, wunderschön, feenhaft, engelsgleich. Zärtlich ist sie, sanft, hilfsbereit, mitfühlend. Eine zierliche, eine zerbrechliche Frau. In ihren Bewegungen beinahe schwebend, friedvoll, geht sie durchs Leben. Ein normales Leben. Dann, plötzlich, legt sich ein Schleier über ihren sanften Blick. Sabina hat geträumt. Undenkbares, Unaussprechliches, Unakzeptierbares hat sie gesehen, gefühlt, geträumt. Eine Erinnerung oder mehr der Hauch davon bahnt sich den Weg in ihr Bewusststein. Schleichend. Beharrlich. Qualvoll. Sabina hat als Kind Schreckliches erlebt. Glaubt sie. Denkt sie. Fühlt sie. Und weiss sie endlich. Der Vater, längst tot wie nun auch die Mutter, hat sie in der Nacht aus ihrem Bettchen geholt, hat ihr und ihrem Bruder Daniele Wunden zugefügt, die nie heilen werden, Schmerzen, die nie aufhören werden. Sabina hat dies alles vergessen oder verdrängt, gelöscht aus ihrem Gedächtnis. Nun jedoch, da sie schwanger ist, kommt es zurück. Verwirrung. Dann Bestürzung. Und schliesslich Lähmung. Ein Besuch bei Daniele in den USA bringt Gewissheit. Die Wahrheit holt sie ein, umklammert sie, erdrückt sie.

Hohe Sensibilität

Und jetzt geht es weiter. Muss es. Denn auch nach der dramaturgischen Klimax mit der Klärung der Vergangenheit, wo andere, einfacher gestrickte und leichter zu mögende Filme aufhören, hat «La bestia nel cuore» das Interesse an seiner Protagonistin noch nicht verloren. Regisseurin Cristina Comencini, ihren eigenen Roman verfilmend, will hier mehr als eine geradlinig auf einen Höhepunkt zusteuernde Geschichte erzählen. Gezeigt wird in ihrem Oscar-nominierten Drama mit hoher (weiblicher) Sensibilität entsprechend nicht nur das Einholen der Wahrheit, wenn sich die Kamera in den Rückblenden im Halbdunkel an die Figuren heranschleicht; nicht nur das Umklammern der Wahrheit, wenn Sabinas innere Anspannung symbolträchtig nach aussen gekehrt wird; und nicht nur das Erdrücken der Wahrheit, wenn die Bestie beim Silvester-Feuerwerk aus Sabinas Herzen ausbricht; gezeigt wird vielmehr auch das Akzeptieren, das Umgehen, das Leben mit dieser Wahrheit. Und damit könnte uns Comencini ihre Sabina so nahe bringen, wie es nur geht. Doch leider mag sie, die auf Ensemblefilme wie das wundervolle Drama «Il più bel giorno della mia vita» spezialisiert ist, sich nicht mit der Analyse ihrer Hauptfigur begnügen. In mehreren Subplots holt sie stattdessen noch die Leichen der Nebenfiguren aus dem Keller. Da ist die blinde, seit je in Sabina verliebte Schulfreundin Emilia (Stefania Rocca). Da ist die von ihrem Gatten gehörnte Arbeitskollegin Maria (Angela Finocchiaro). Da ist der sich als Schauspieler abstrampelnde Lebenspartner Franco (Alessio Boni). Da ist die sich an Franco ranschmeissende Statistin Anita (Francesca Inaudi). Und da ist der an der Grenze zur Desillusionierung torkelnde Regisseur Negri (Giuseppe Battiston). Sie alle erfüllen wohl ihre Funktion beim Überbringen der von der trügerischen Oberfläche kündenden Botschaft des Films, ihr Los jedoch lässt einen letztlich unberührt zurück. Die einzig wirklich starke Nebenfigur bleibt so Daniele, gespielt vom grandiosen Luigi Lo Cascio aus Mario Tullio Giordanas monumentalem Meisterwerk «La meglio gioventù».

Mitleiden und mitbeten

Es ist schade, jammerschade, dass sich Comencini nicht noch mehr auf Sabina konzentriert. Umso mehr, als dies die 2005 in Venedig prämierte Rolle des Lebens von Giovanna Mezzogiorno («L’ultimo bacio») ist. Was sie vollbringt, ist nichts weniger als eine Parforceleistung. Grosser Worte und Gesten bedarf sie dazu freilich nicht. Sabinas Tragödie lässt sie vornehmlich in ihren Augen abspielen. Wenn sich der Blick allmählich verfinstert oder leer wird oder traurig oder verstört, werden gleichsam Beschützerinstinkte geweckt. Und wenn Comencini sie alleine und von der Leinwand verschwinden lässt, wird einem denn auch nachgerade unwohl. Man will bei ihr bleiben, sie nicht aus den Augen, sie nicht im Stich lassen. Was über Maria oder Franco gesagt wird, interessiert nicht. Die Gedanken bleiben bei Sabina. Denn man leidet mit ihr. Und hofft mit ihr. Und weint mit ihr. Und betet mit ihr. Und betet.