Träum weiter, Kleines!

Schwelgend in den Albtraum: Der englische Kultfilmer Edgar Wright hat mit «Last Night in Soho» einen originellen Horrortrip ins London der Sechziger geschaffen – auch wenn dieser im irren letzten Drittel im Wahnsinn kollabiert.

Universal

von Sandro Danilo Spadini

Es sei nicht, was sie erwarte: London könne recht überwältigend sein, warnt die Grossmutter (Rita Tushingham) ihre Enkelin Eloise (Thomasin McKenzie), als die sich gar nicht mehr richtig einkriegen mag vor Freude darüber, dass sie vom London College of Fashion endlich den herbeigeflehten Studienplatz erhalten hat. Für ihre Mutter, die sich das Leben nahm, als «Ellie» gerade mal sieben war, sei das alles zu viel gewesen, gibt die Oma noch zu bedenken. Aber davon will die angehende Modedesignerin jetzt nichts hören: Viel zu lange hat sie doch davon geträumt, das Plätschern in ihrem Zuhause in Cornwall gegen das Pulsieren der Metropole einzutauschen – auch wenn das London von heute nicht mehr gar so viel zu tun hat mit jenem der Swinging Sixties, von denen sie von der Mode bis zur Musik geradezu besessen schwärmt. Uns freilich schwant schon schnell, dass diese Unschuld vom Lande mit den grossen staunenden Augen bald einmal vom Gewimmel in der unbarmherzigen Stadt überfordert sein könnte. Schon der Taxifahrer, der sie vom Bahnhof mitnimmt, ist ein widerlicher Lüstling; und dann erst die Zimmergenossin (Synnove Karlsen) – was für eine affektierte Trulla! Kein Wunder, dauert es nur eine chaotische Nacht, bis Ellie sich dazu entschliesst, sich eine eigene Bleibe zu nehmen – natürlich in Soho, dort also, wo das Leben glitzerte und funkelte, swingte und stürmte, pochte und bebte damals in den magischen Sechzigern. Hier nun, im Dachzimmer des altehrwürdigen Hauses der exzentrischen Miss Collins (in ihrer letzten Rolle: Diana Rigg), schwelgt sie sich in eine längst untergegangene, von der Gentrifizierung aufgefressene Welt und träumt ihren Traum von einem Leben in Glamour – und das ganz buchstäblich und bis in den halluzinierenden Wahnsinn hinein.

Unter der prickelnden Oberfläche

Es dauert eine ganz schön lange Weile, bis «Last Night in Soho» als das erkennbar wird, was der neue Streich des britischen Kultfilmers Edgar Wright («Shaun of the Dead») im Kern sein soll: ein Horrortrip in der Tradition von Roman Polanskis «Repulsion». Doch nicht nur hat es der Film gar nicht eilig, seine Abgründe aufzureissen; er schickt auch kaum Vorboten aus, die uns darauf einstellen würden, was im letzten Drittel noch alles an Krudem abgehen wird. Stattdessen lässt er Ellie erst mal in London und uns ganz relaxt im Film ankommen; lässt allerlei halbseidene Gestalten davon raunen, dass das alte London im Untergrund sehr wohl noch weiterexistiere; lässt die Träume des braven Mäuschens Ellie mal sanft, mal heftig mit der Wirklichkeit kollidieren; lässt in ihrer Fantasie die Swinging Sixties auferstehen und ihr in ihren an die legendäre britische 80er-Jahre-Serie «The Singing Detective» gemahnenden Visionen den wilden Vamp Sandie (Anya Taylor-Joy) erscheinen, dessen Werdegang ihr freilich verrät, dass früher mitnichten alles besser war, sondern dass das unter der prickelnden Oberfläche morastig geblubbert hat und ganz üble Zeiten waren gerade für junge Frauen, die es schaffen wollten in der grossen Welt, die diese Welt bezirzen und verführen wollten, von dieser aber mit Haut und Harren verschluckt und wieder ausgespuckt wurden. Und da kippt nun auch der Film: von der nostalgischen Schwelgerei in einen Albtraum im Neonschein. Der Schleier der Verklärung lüftet sich und legt den Blick frei auf die Geister der Vergangenheit, die in schmuddeligen Seitengassen lungern; auf die Träume, die tausend Tode starben und im Nebel weiterwabern; die gescheiterten Existenzen, die krachend auf dem Asphalt des Grossstadtdschungels aufschlugen; die versehrten Seelen, die sich hier endgültig verloren; und die Nachtmahren, die diese Träume und Versehrungen ausnutzten für ihr unseliges Treiben. Und bei alledem schwingt immer die Furcht mit, dass Ellie von der Mutter womöglich nicht nur das kreative Talent, sondern auch den Hang zum Irrsinn geerbt haben könnte: dass mithin auch unsere herzliche Heldin, die wir jetzt so gut kennen lernen durften, von diesem monströsen Moloch verschlungen werden könnte.

Manche magischen Momente

Es ist das alles wunderbar gemacht bis hierhin von Edgar Wright, der auch dieses Mal wie stets ebenso für das Drehbuch verantwortlich zeichnete. Der erste Teil mit Ellies Ankunft und dem Aufziehen ihrer Traumwelt mag zunächst zwar etwas unterwältigend wirken, dies zumal für Freunde des Horrorgenres. Er ist aber nicht nur überaus flüssig und in den Rückblenden absolut filigran in Szene gesetzt und von Newcomerin Thomasin McKenzie («Jojo Rabbit», «Leave No Trace») charmant und überzeugend gespielt; er ist auch das Fundament, ohne das die folgenden Verwerfungen nicht ihre emotionale Wirkung entfalten könnten. Auch der Mittelteil mit dem allmählichen Abgleiten in einen Albtraum aus Horror und Tortur erfüllt die von Wrights letztem Geniestreich («Baby Driver») geweckten und in der ersten Stunde durchaus bestätigten Erwartungen noch über allerweiteste Strecken: Die nun endlich abgefeuerten Schockeffekte sind originell und wohldosiert, effizient und effektiv eingesetzt und nicht minder schmuck verpackt. Das Problem von «Last Night in Soho» beginnt erst mit dem Schlussteil, wo das Geschehen zunächst ein wenig durchhängt und der Spuk schliesslich ausser Kontrolle gerät. Es wird hier nun offenbar, dass es nicht so sehr Ellie ist, die dem Wahnsinn anheimfällt, sondern der Film selbst. Und der empfängt diesen mit offenen Armen, umfasst ihn innig, drückt ihn fest an sich und lässt ihn bis zum Schluss nicht mehr los. Auf das nun war man jetzt eben nicht wirklich gefasst, nicht nach dem sublimen und subtilen Schauer davor. Und weil das am Ende auch noch ins Repetitive driftet und seine Originalität einbüsst, kollabiert «Last Night in Soho» letztendlich im Chaos. Das ist natürlich ungemein schade für den Gesamteindruck eines Films, der davor so viel Handwerkskunst offenbarte und auch den einen oder anderen magischen Moment hatte. Es ist aber kein Grund, in lautes Lamentieren zu verfallen. Immerhin kommen so die Genrefreunde noch spät auf ihre Kosten.