von Sandro Danilo Spadini
Mit zwölf Jahren fängt bekanntlich der Ernst des Lebens an. Glaubt man zumindest, wenn man zwölf Jahre alt ist. Und sowieso, wenn man zwölf Jahre alt ist und sich wie Sam (Jared Gilman) und Suzy
(Kara Hayward) das erste Mal verliebt hat. Okay, Sam und Suzy mögen jetzt nicht wirklich die repräsentativsten Vertreter ihrer Altersgruppe sein – schliesslich spielen sie die Hauptrollen im
neuen Film von Regiespinner Wes Anderson («The Royal Tenenbaums»). Doch was sie im 1965 angesiedelten «Moonrise Kingdom» nach dem Ausbüxen aus dem Pfadfinderlager (er) respektive von zu Hause (sie) auf einer kleinen Insel in Neuengland
erleben, hat schon universellen Anspruch: Da werden Dinge entdeckt, die ernster, wichtiger und grösser sind als fast alles, was im Leben noch folgen wird. Aber natürlich verstehen das die drögen
Erwachsenen wieder mal nicht, und deshalb sind die auch wie wild hinter diesen jungen Liebenden her: Bill Murray und Frances McDormand in ihrer Funktion als Eltern des Backfischs; Ordnungshüter
Bruce Willis und Sozialarbeiterin Tilda Swinton von Berufes wegen; und Pfadfinderführer Edward Norton aufgrund eines ausgeprägten Ordnungssinns und Verantwortungsgefühls.
Selbstbewusst und -gefällig
Wie Nortons Figur kommt einem hier Regisseur Wes Anderson vor: Auch er mag es in seinem ersten Realfilm seit fünf Jahren so schön aufgeräumt. Beinahe mit dem Lineal gezogen sind die
Kamerafahrten; von vollkommener Symmetrie ist die Bildkomposition; fein säuberlich angeordnet ist das Puppenhaus-Dekor; in Reih und Glied bewegen sich die Figuren mit ihren kerzengeraden Rücken,
dem schnurgeraden Gang und den fadengeraden Dialogen. Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch sein siebter Kinofilm, der die diesjährigen Filmfestspiele von Cannes eröffnete, ein
überaus verspielter ist: bunt, skurril und bisweilen fast surreal in seiner kindlichen Grundhaltung. Freilich ist «Moonrise Kingdom», ein autistischer Bruder im Geiste des letztjährigen
Festivallieblings «Submarine», auch ein sagenhaft selbstgefälliges Werk, das eitel mit seiner Originalität protzt. Denn es ist dies halt durch und durch das Kind seines Schöpfers: Dieser Wes
Anderson verfügt fraglos über eine ausserordentliche Begabung; er hat aber auch die sehr mühsame Angewohnheit, einem das in jeder Mikrosequenz vor die Visage zu knallen – gerade so wie ein
besonders aufgeweckter Zwölfjähriger, der die Erwachsenen unaufhörlich mit seinem Wissen und Können zu beeindrucken sucht. Oder eben wie ein altkluger Pfadfinder, dem mitunter auch hier just das
passiert, was Bruce Willis‘ weiss besockter Captain Sharp dem wieder mal untröstlichen Sam zu bedenken gibt: «Sogar gescheite Kinder stecken ihre Finger mal in die Steckdose.» Zum Glück
unterläuft dem unverbesserlichen Lausbub und Schlaumeier auf dem Regiestuhl solch nassforsches Missgeschick hier weit seltener als noch in den Vorgängern «The Darjeeling Limited» und «The Life
Aquatic with Steve Zissou». Vielmehr trifft Anderson in dieser 90-minütigen Märchenstunde aus dem Liebesparadies praktisch immer den Ton – diesen einigermassen gewöhnungsbedürftigen Ton, den man
freilich erst mal aushalten können muss.
Ein Herz für junges Glück
Extrem stimmig ist «Moonrise Kingdom» sogar, geradezu perfekt komponiert, eine Sinfonie des aufsässigen Witzes und des detailbesessenen Bildes – und so etwas wie ein Meisterwerk. Einen
erstaunlich hohen Anteil daran haben die beiden jungen Hauptdarsteller, die das Drehbuch von Anderson und Roman Coppola trotz all der prominenten Mitspieler so oft unter sich lässt:
mutterseelenallein schwebend durch einen Hort der Glückseligkeit, die wohl flüchtig bleiben wird; scheinbar befreit von den Repressalien der Realität, deren Häscher aber immer hinter dem
übernächsten Gestrüpp hervorlugen. Und damit bezeugt der Film schliesslich, dass auch er diese erste Liebe ganz, ganz ernst nimmt – grosses Pfadfinder-Ehrenwort. Er tut gut daran. Denn täte er
Sams und Suzys Himmelstürme und Höllenqualen als weltfremden Teenie-Herzschmerz ab, wäre das alles ein bisschen müssig – und einfach herzlos.