Im hässlichen Herzen der amerikanischen Finsternis

In der politisch bereinigten Bestsellerverfilmung «Hillbilly Elegy» schlagen und lieben sie sich, helfen und hassen sie sich; doch uns lassen gar die beträchtlichen schauspielerischen Anstrengungen von Amy Adams und Glenn Close kalt.

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Von Sandro Danilo Spadini

J.B. (Gabriel Basso) ist ein Hillbilly. Ein Redneck. White Trash. Aufgewachsen zwar in einer faden Kleinstadt in Ohio, «seine Leute» kommen aber ursprünglich aus Jackson, Kentucky. Appalachen. Heartland U.S.A. Das zusehends hässliche Herz der amerikanischen Finsternis, wo sie Trump lieben und ihr Leben hassen, wo Armut, Gewalt und Sucht dominieren, wo die äussere mit einer inneren Verwahrlosung einhergeht. Und jetzt, wir schreiben das Jahr 2011, sitzt J.B. also hier, bei einem schnieken Dinner an der Elite-Uni Yale, und versucht nicht nur ein Praktikum bei einer renommierten Anwaltskanzlei zu ergattern, sondern auch noch zu raffen, warum zum Teufel es so viele gottverdammte Gabeln auf dem Tisch hat. Er hat es, nachdem er buchstäblich als Tellerwäscher gearbeitet und im Irak gedient hat, fraglos weit gebracht, unerwartet weit, unwahrscheinlich weit. Und da fragt ihn dieser Snob zu seiner Linken nun doch gönnerisch grinsend, wie es denn sei, wenn er nach Hause zurückkehre: ob er sich inmitten all dieser Hinterwäldler fühle wie auf einem anderen Planeten. Nun, wir werden es gleich herausfinden. Denn soeben hat J.B. von seiner Schwester Lindsay (Haley Bennett) erfahren, dass seine Mutter Bev (Amy Adams) nach einer Überdosis – Heroin! – daheim in Middletown, Ohio, im Krankenhaus liegt. Und in diesen Gefilden, da zählt Loyalität noch was – da wird in so einem Fall erwartet, dass man sofort alles stehen und liegen lässt, seine Kreditkarten bis zum Maximum ausreizt und in seine Klapperkiste steigt, ganz egal, wie beschissen sich diese selbst- und rauschgiftsüchtige Mama ihr verkorkstes Leben lang benommen hat, wie oft sie ihn geschlagen und enttäuscht hat, wie oft er für sie lügen und in einen Becher pissen musste, damit sie beim Drogentest ihres Arbeitgebers nicht durchfällt. Und weil J.B. trotz allem ein braver Sohn ist, ein gutmütiger Bär, kehrt er nun heim, in die Appalachen, in die Welt, die er hinter sich gelassen hat, der er entflohen ist. In seine Welt.

Kontroverse Vorlage

Vor vier Jahren hat J.B. Vance mit «Hillbilly Elegy» einen veritablen Bestseller gelandet, der gerade auch ausserhalb von Buchzirkeln viel zu reden gab. Denn es war dies mehr als eine Autobiografie, die der Debütant da geschaffen hatte – es war quasi auch eine Autopsie der abgehängten weissen Arbeiterklasse und gereichte als solche mithin prima zur Erklärung für das Unerklärliche, das eben noch Undenkbare: die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten. In seinen Aufzeichnungen beklagte Vance nicht nur die Junkfood mampfenden, sich vor dem enormen Flachbildschirm fläzenden oder am neusten Handy hängenden Sozialschmarotzer und «Welfare Queens», wie sie Ronald Reagan einst nannte; er argumentierte an seinem leuchtenden Beispiel auch, dass es in den USA selbst heute noch jeder schaffen könne – wobei so was natürlich immer auch impliziert, dass die, die es eben nicht packen, schlicht zu faul sind, sich ihre Tristesse selbst zuzuschreiben haben, dass Armut ergo selbstverschuldet ist. Kein Wunder also, haben die konservativen Hitz- und Holzköpfe bei Fox News Vance an den Lippen gehangen. Und ebenso wenig Wunder, haben die Avocado-Toast-Fresser an den Küsten die Nase über ihn gerümpft. Solche Kontroversen freilich taugen natürlich schlecht für einen breit zu akzeptierenden Mainstreamfilm; und deshalb hat Regisseur Ron Howard seine «Hillbilly Elegy» nun von allem Politischen bereinigt und übt nur leise, kaum hörbar Gesellschaftskritik, und wenn, dann stets ganz unverfänglich, mehrheitsfähig – nichts, worüber sich lange sinnieren, geschweige denn diskutieren liesse.

Wenig Struktur, viel Geschrei

Nichtsdestotrotz hätte dieser abgespeckte Stoff immer noch einiges Potenzial, liesse sich diese fremde Welt neugierig erkunden, diese verblühten und verseuchten Landschaften, denen Howard in einer frühen Sequenz eine Rückblende in die Jugendzeit der toughen Oma, der martialischen Matriarchin Mamaw (Glenn Close), gegenüberstellt, als die Kleinstädte noch prosperierten und die Leute sich chic machten. Und heute? Allerorten käsige Gesichter, unförmige Leiber, fettige Haare, schäbige Klamotten, ganz zu schweigen von der Hässlichkeit da drinnen, den geschundenen Seelen und verhärteten Herzen, der Wut auf die Welt, dem Frust, der Resignation, der Perspektivlosigkeit. Daraus also könnte sehr wohl ein raues, rohes Drama entstehen, unerschrocken und ungeschminkt, ergiebig und erkenntnisreich. Doch wie so oft, wenn Ron Howard («A Beautiful Mind») das Sagen hat, bleibt die Bremse angezogen. Denn Howard – ein sicher solider, kompetenter Regisseur – hat nun mal die Tendenz, das Ungeschliffene schleifen, das Ungerade begradigen zu wollen; er strebt nach Ausgleich und Wohlgefallen. Entsprechend ist das kein wilder Ritt kopfvoran in die hinterwäldlerischen Abgründe, der einen das Blut der aufgeplatzten Lippen schmecken, das alte Fritteusen-Öl riechen, den kalten Zigarettenrauch einatmen, den Scheisskater spüren lässt. Es ist mehr ein Streifzug bei geschlossenem Fenster, ein bisschen voyeuristisch, ein bisschen Slumming, vor allem aber immer aus sicherer Distanz. Mit anderen Worten: Diese Welt wird nicht lebendig. Und das liegt – durchaus paradoxerweise – auch an den verschandelten Darstellerinnen, die hier zwar alle Register der Transformationskunst und des Schauspielhandwerks ziehen, dabei aber das Wesentlichste vergessen: authentisch zu wirken. Es ist zwar fulminant gespielt, was Glenn Close und die ihr schon breites Repertoire unbeirrt erweiternde Amy Adams da tun, aber eben immer noch und vor allem: gespielt. Und so ist das am Ende nicht mehr als eine klassische Aufsteigergeschichte. Eine klassische Generationengeschichte. Eine klassische Suchtgeschichte. Weil Ron Howard, der mag es halt, ja, klassisch. Man wähnt sich denn auch auf vertrautem Terrain statt in unbekannten Landen, in denen es so viele Antworten zu schürfen gäbe. Und der Versuch, mittels Zeitsprüngen und Perspektivenwechseln zu tieferen Einblicken zu gelangen, wirkt irgendwie ratlos halbherzig und nagt obendrein an der Struktur des Skripts, das letztlich kaum mehr offeriert als eine unsortierte Abfolge von Dramen und Katastrophen, Ungeheuerlichkeiten und Kränkungen, Dummheiten und Ausrastern. Diese ganzen Widrigkeiten und Scheusslichkeiten schaffen es indes nicht, einen zu berühren, ja nicht mal einen gross zu kümmern vermögen sie. «Alles, was du tust, ist, mich anzubrüllen», sagt J.B. einmal zur Oma. Nach zwei Stunden filmischer Leidenszeit ahnt man, wie er sich fühlt. Wenn er aber dann einmal mehr ein «Ich hasse dich» in die Ödnis posaunt, bleibt er allein. Denn Hass ist – anders als je nachdem bei der Vorlage – nicht das Gefühl, das Ron Howards «Hillbilly Elegy» evoziert. Es ist das ein Gefühl, das noch übler ist: Gleichgültigkeit.