Bevor sie abhebt und wegfliegt

Indie-Liebling Greta Gerwig hat mit ihrem fünffach Oscar-nominierten semibiografischen Zweitling «Lady Bird» einen herrlich herzlichen Film über das Erwachsenwerden gedreht – ein Juwel.

 

von Sandro Danilo Spadini

Nichts von dem sei passiert, aber alles sei wahr, sagt Greta Gerwig über die Geschehnisse in «Lady Bird». Das ist ein gewitzter Satz und damit genau das, was von dieser erstaunlichen 33-Jährigen aus der kalifornischen Kapitale Sacramento inzwischen fast erwartet werden darf. Denn Greta Gerwig ist so was wie ein Phänomen: Als Indie-Ikone wurde sie bereits gefeiert, als sie 26-jährig in «Greenberg» ihre Premiere vor grösserem Publikum hatte. Regisseur Noah Baumbach verliebte sich prompt in sie; die «New York Times» sah in der schlaksigen Mumblecore-Blondine im Hipster-Look schon «die massgebliche Leinwandheldin ihrer Generation»; und wie so oft bei talentierten jungen Damen war dann auch Woody Allen nicht mehr fern. Nichts, was Gerwig an Gefeiertem vollbracht hat, auch nicht «Frances Ha», löste indes derart frenetische Jubelstürme aus wie nun «Lady Bird». Hier steht Gerwig für einmal nicht vor, sondern zum zweiten Mal hinter der Kamera; zudem zeichnet sie für das Skript, worin sie, eben, so halb ihre eigene Geschichte aufgeschrieben hat. Der messbare Erfolg dieser über Jahre ausgebrüteten Herzensanstrengung: fünf Oscar-Nominierungen für Film, Regie, Drehbuch, Haupt- und Nebendarstellerin. Der künstlerische Wert: unermesslich.

Aufregend, anregend, erregend

Für die Hauptrolle und also ihr Alter Ego hat sich Gerwig die kaum minder talentierte Saoirse Ronan («Brooklyn») ausgeguckt. Ronan ist 23-jährig und Irin. Hier aber ist sie mit jeder Faser ihres Schauspielerinnenherzens die 17-jährige Kalifornierin Christine, die mit gnadenlosem Teenagertrotz darauf beharrt, «Lady Bird» genannt zu werden. Lady Bird, die eine zivilisierte, wiewohl nicht allzu züchtige katholische Highschool besucht, steht bald an jenem Punkt, wo ein junges amerikanisches Leben durchgeschüttelt wird: dem Abflug ans College. Weit weg vom öden Sacramento, das sie so sehr hasst und doch so sehr liebt. Und weit weg von der drögen Mutter (Laurie Metcalf), die sie so sehr stresst und die sie doch so sehr braucht. Das geht dann so: «Ich hasse Kalifornien. Ich will dort hin, wo Kultur ist: New York oder immerhin Connecticut oder New Hampshire.» – «Du würdest es eh nicht packen an den Schulen dort.» – «Sorry, dass ich nicht perfekt bin!» Und dann hechtet Lady Bird aus dem fahrenden Auto. Auf den Gips um ihren gebrochenen Art kritzelt sie: «Fuck You Mom». So schaut das aus bei Lady Bird und ihrer mit Geldsorgen geschlagenen Mutter im Herbst 2002. Und sonst? Ganz viel Aufregendes, Anregendes, Erregendes: die ersten künstlerischen Erfahrungen in einem Musical. Die ungelenken ersten Versuche intellektuellen Aussenseitertums. Der erste Job. Die erste Liebe. Der erste Joint. Die zweite Liebe. Das erste Mal. Und so viele Leute, die ihren Weg bereichern: der gutmütige Vater (Tracy Letts), die treuherzige Julie (Beanie Feldstein), der pausbäckige Danny (Lucas Hedges), der freigeistige Kyle (Timothée Chalamet). Sie alle definieren sich zwar über die Funktion, die sie in Lady Birds Leben haben, da dies jederzeit deren Geschichte ist; aber weil Gerwig sich die Mühe macht, ihnen eine Gestalt und ein Gesicht zu geben, sind das allesamt ganz spannende (und formidabel verkörperte) Gesellen.

Magisches Schwelgen

Schon klar: Mit seiner kecken Heldin steht «Lady Bird» in der frischen Tradition weiblich orientierter Coming-of-Age-Komödien à la «Juno», «Easy A» und «The Edge of Seventeen». Gerwig hatte freilich ein noch grösseres Vorbild im Kopf: das Über-Meisterwerk «Boyhood». Herausgekommen ist ein Mix von beidem. «Lady Bird» ist wie «Juno» und Co. clever, patzig und redselig, ohne neunmalklug, zynisch und geschwätzig zu sein. Und mit «Boyhood» teilt dieses Juwel den melancholischen Hauch. Es solle wie eine Erinnerung aussehen, instruierte Gerwig denn auch Kameramann Sam Levy, der dem geliebt gehassten Sacramento mit den leicht verblassten kalifornischen Sommerfarben gleichsam ein Siebziger-Feeling verlieh. Und so hat es auch etwas Schwelgerisches, dieses ungeduldige Warten zwischen Festsitzen und Aufbrechen, Frust und Vorfreude, sich Verleugnen und neu Erfinden, Abschiednehmen und neu Beginnen, zwischen dem Suchen und dem Finden seiner selbst und seines Platzes auf dieser Welt, sprich: dieses Erwachsenwerden. Und es hat allerhand Magisches, an das man noch lange, lange denken wird: ganze Szenen bisweilen oder einfach eine Figur, eine Weisheit, ein Spruch, ein Kostüm, ein Song oder gar nur ein Blick. Das ist quasi der Inbegriff von Originalität. Aber ganz ehrlich: Das hat man Greta Gerwig schon irgendwie zugetraut.