Dokumentation einer Tragödie

In ihrem bestechenden Regiedebüt erzählt Kimberly Peirce die wahre Geschichte einer 20-jährigen, welche sich als Mann ausgebend in einem Provinzkaff zunächst ihr kurzes Glück und schliesslich ihren Tod findet.

 

von Sandro Danilo Spadini

Die Geschichte ereignete sich im Jahre 1993 in der tiefsten Provinz des Mittleren Westens Amerikas und schlug eine Zeitlang bundesweit recht hohe Wellen. Der 20-jährige Brandon Teena wurde von seinen Freunden umgebracht, weil diese herausgefunden hatten, dass er in Tat und Wahrheit eine Frau ist. In ihrem Erstlingswerk «Boys Don’t Cry» nimmt sich Regisseurin Kimberly Peirce diesem ebenso ungewöhnlichen wie tragischen Fall noch einmal an. Herausgekommen ist ein stiller, kleiner Film, der durch eine ungeheure Intensität besticht. In Falls City gibt es nun wirklich nichts, was das Leben etwas lebenswerter machen würde. Die Leute, die dort wohnen, sind eher simple Gemüter, die ihren Alltagskummer allabendlich in muffigen Bars zu ertränken versuchen. Brandon (Hilary Swank) stört dies jedoch wenig, denn auf der Flucht vor den Gesetzeshütern seiner Heimatstadt ist für ihn dieses grausame Kaff ein Neuanfang. Binnen kürzester Zeit gelingt es ihm, Anschluss an eine örtliche Clique zu finden, welcher auch die zwar etwas schlampige, aber nichtsdestotrotz liebenswerte Lana (Chloë Sevigny) angehört. Er verliebt sich unsterblich in die Dorfschönheit, deren cholerischer Freund John (Peter Sarsgaard) jedoch bald Bedenken hinsichtlich Brandons wahrer Identität hat. Als die Wahrheit schliesslich ans Licht kommt, brennen bei John alle Sicherungen durch.

Genaue Figurenzeichnung

Kimberly Peirce nahm sich bei ihrem Debüt sehr viel Zeit für die Figurenzeichnung. Nicht nur die Hauptfigur Brandon, dessen naive und unverwüstliche Hoffnung einem fast das Herz bricht, sondern auch die übrigen Protagonisten werden vielschichtig dargestellt. Sehr präzise und nie herablassend wirft Peirce einen Blick auf die «White Trash»-Kultur Amerikas. Sie zeigt die fatale Reaktion Johns auf die Entlarvung Brandons nicht als einen nur durch Dummheit und Engstirnigkeit evozierten Akt roher Gewalt. Es sind vielmehr Gefühle wie  Verzweiflung und Unfähigkeit zum Verständnis, die letztlich zu der unausweichlich scheinenden Katastrophe führen. Als John gemeinsam mit einem Freund Brandon vergewaltigt – eine Szene von paralysierender Beklemmung –  zeigt sich dies auf die grausamste Art und Weise.

Oscar für Hilary Swank

Von der New York Times wurde «Boys Don’t Cry» als bester amerikanischer Film des vergangen Jahres gekürt. Die grandiose Leistung Hilary Swanks wurde mit dem Oscar für die beste weibliche Hauptrolle gewürdigt und für Chloë Sevigny gab es eine Nominierung in der Kategorie «Beste Nebenrolle». All dies unterstreicht die herausragende Qualität dieser Low-Budget-Produktion. Kimberly Peirce ist ein ungemein kohärenter Film geglückt, welcher gespickt mit formaler Eleganz und wunderbaren Darstellern das in letzter Zeit häufig über Gebühr strapazierte Prädikat Meisterwerk verdient. «Boys Don’t Cry» ist vielleicht nicht der beste, ganz bestimmt aber einer der tragischsten und nachdenklichsten Filme des vergangen Jahres.