Grauen und Gräuel in Griechenland

John David Washington fühlt sich im politisch grundierten Paranoia-Thriller «Beckett» auf seiner kinogeschichtlich fundierten Flucht wie der falsche Mann im falschen Film. Dabei machen er und Regisseur Ferdinando Cito Filomarino fast alles richtig.

Netflix

von Sandro Danilo Spadini

Es ist ein ganz und gar klassischer Topos, auf den der 34-jährige Italiener Fernandino Cito Filomarino da in seiner zweiten Produktion als hauptverantwortlicher Regisseur abstellt: ein Jedermann, dem in der Fremde übel mitgespielt wird. Der erst nicht versteht, was hier vor sich geht, und dann nicht glauben kann, was da läuft. Und der auf seiner Flucht vor einem übermächtigen Kontrahenten seine Konfusion, seine Konsternation und seine Kapitulation überwinden und über sich hinauswachsen muss, um Frieden und Gerechtigkeit zu finden, um seinen Verstand und nichts weniger als sein Leben zu retten. All das ist da in «Beckett», diesem von Filomarinos einstigem Chef und Lebenspartner Luca Guadagnino («Call Me by Your Name») produzierten und von dessen Stamm-Kameramann Sayombhu Mukdeeprom fotografierten Menschenjagd-Thriller. Und dennoch wirkt das Werk des Grossneffen von Luchino Visconti irgendwie anders, irgendwie speziell, irgendwie originell. Geschuldet ist das zum augenfälligen einen der ungewohnten Umgebung, in die Filomarino diesen Topos verfrachtet hat, und zum hintergründigen anderen der Zeit, die seine Filmsprache evoziert – namentlich also dem Norden Griechenlands, wohin das amerikanische Touristenpaar Beckett (John David Washington) und April (Alicia Vikander) wegen der Anti-Austeritäts-Proteste in Athen ausgewichen ist, und den Reminiszenzen an den Paranoia-Thriller der Siebzigerjahre.

Keinerlei Wissensvorsprung

Auf seinem Abenteuer in einem fremden Raum und aus einer scheinbar anderen Zeit, dieser Kreuzung quasi aus «North by Northwest» und «The Parallex View», lässt es der frühere «Second Unit Director» Filomarino recht gemächlich angehen – anfangs sogar fast ein wenig behäbig, wenn er uns Beckett und April in kahler und klarer, geradezu kühler und karger Inszenierung ohne Schnickschnack und Schabernack als hoffnungslos ineinander vernarrtes und ständig schäkerndes Traumpaar zum Gernhaben präsentiert. Doch dann geschieht das Unglück, das nicht nur eine unermessliche persönliche Tragödie bedeutet, sondern auch perfides Grauen und perverse Gräuel nach sich ziehen wird: Beckett schläft am Steuer ein, baut einen Unfall, bei dem April ihr Leben lässt und er Zeuge von etwas wird, was er nie hätte sehen dürfen. Noch immer unter Schock und in Trauer, findet er sich in kolossaler archaischer Kulisse bald schon auf der Flucht vor lange namenlos bleibenden Schergen, während der sich zu den seelischen immer mehr leibliche Versehrungen gesellen. Einem Roadmovie gleich ist Becketts Odyssee aufgezogen; durch eine oftmals betörende Szenerie stolpernd und torkelnd, korrupte Cops und kaltblütige Killer immerzu im Nacken, kreuzen knorrige Kerle und komische Käuze seinen Weg, bei denen er einfach nur hoffen kann, dass sie es gut mit ihm meinen und bitte auch Englisch sprechen mögen. Ein Handy, das er ausleihen könnte, wäre auch nicht schlecht. Doch wen anrufen? Wem trauen? Der US-Botschaft in Athen? Klar, das ist immer eine Option. Aber allzu oft haben sich die Diplomaten im Kino halt auch als unstete Verbündete erwiesen, zumal dann, wenn wie hier politisch einiges auf dem Spiel steht. So vermuten wir es einstweilen jedenfalls. Aber genau wissen können wir das nicht, denn Filomarino und Drehbuchdebütant Kevin A. Rice gewähren uns entgegen dem Hitchcock-Axiom keinerlei Wissensvorsprung vor dem Helden und lassen uns mithin so rat- und ahnungslos zurück wie diesen. Das heisst: Ein bisschen was meinen wir kraft unseres filmgeschichtlichen Gedächtnisses natürlich schon zu wissen. Und wenn uns um die Filmmitte herum, gerade noch rechtzeitig angesichts des strapazierten Geduldfadens, just so viele Fakten und Hintergründe spendiert werden, um den gröbsten Wissenshunger zu stillen, dürfen wir uns denn auch bestätigt fühlen in unserer Vorahnung. Letztlich aber bleibt die einfach gestrickte Verschwörungsgeschichte kaum mehr als Hintergrundrauschen, Kolorit gleichsam, um dieser Jagd auf einen Menschen, den wir im Verlaufe der fast zwei Stunden Spielzeit nicht viel besser kennen lernen werden, eine zusätzliche Dimension zu geben.

Eine grundsolide Leistung

Eine lauwarme Figurenzeichnung und ein halbgarer Kontext – das könnte gehörig in die Hose gehen. Dass es das nicht tut, hat damit zu tun, dass es hier viel zu viele Dinge gibt, die abseits von Held und Handlung unser Interesse zu wecken vermögen: sie es ein Schauplatz in den Bergen im Norden oder den Strassenschluchten Athens; sei es eine Nebenfigur wie der von Boyd Holbrook kernig-knackig gespielte Botschaftsmann, in dessen Obhut Beckett landet; sei es der mal minimalistisch dröhnende, mal psychedelisch schnatternde Soundtrack Ryuichi Sakamotos; oder sei es einer dieser Horrorfilm-Ängste heraufbeschwörenden Kameracoups. Doch auch John David Washington trägt tatkräftig zum Gelingen dieses kleinen Experiments bei. So wie in Christopher Nolans «Tenet», seiner bisher klar profiliertesten Rolle, ist das von ihm zwar keine Performance, die ihn zum Superstar machen wird; aber es ist erneut eine grundsolide Talentprobe, die freilich ungemein von seinem naturgegebenen Charisma profitiert. Dass es der Sohn des grossen Denzel Washington schafft, uns diesen Normalo ans Herz wachsen zu lassen, obwohl wir eigentlich viel zu wenig über ihn wissen: Das ist indes keine geringe Leistung. Zumal an diesem Beckett kaum etwas übermässig bemerkenswert wäre, er mehr der zögerlich-sensible Typ ist als der Draufgänger, den es jetzt eigentlich brauchte. Fast hat man sogar ein wenig Mitleid mit ihm. Aber nur fast. Denn Beckett mag sich vorkommen wie der falsche Mann zur falschen Zeit am falschen Ort und sich im falschen Film wähnen. Doch für uns fühlt sich Washington in griechischen Gefilden im Siebzigerjahre-Modus vollkommen richtig und «Beckett» als Ganzes so letztlich absolut stimmig an.