Die Summe des Lebens

In seinem preisgekrönten Familienporträt «Yi Yi» beleuchtet der taiwanesische Regisseur Edward Yang auf unaufgeregte, aber keineswegs unaufregende Weise die existentiellen Inhalte des menschlichen Daseins.

 

von Sandro Danilo Spadini

Noch immer fristet das asiatische Kino hierzulande ein Schattendasein. Regisseure wie der Japaner Takeshi Kitano («Hana-Bi»), die in Hongkong gross gewordenen Chinesen Wong Kar-wai («Fallen Angels») und John Woo («Face off») sowie der in Taiwan geborene Ang Lee («Icestorm») gehören zu den wenigen auch der hiesigen Filmgemeinde gängigen Vertretern asiatischen Filmschaffens. Mit dem Taiwanesen Edward Yang, dem Regisseur des vor einem Jahr in Cannes mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichneten Familienporträts «Yi Yi», dürfte wohl bald ein weiterer Name hinzukommen.

Die Dinge des Lebens

Taiwan ist seit den Neunzigerjahren weiss Gott kein unbekannter Name mehr auf der Filmlandkarte. Unter anderen sorgten «Der Meister des Puppenspiel» (Hou Hsiao-Hsien, 1993 Preis der Jury in Cannes) oder «Vive l’amour» (Tsai Ming-Liang, 1994 Goldener Löwe in Venedig) auf den internationalen Filmfestspielen bereits für Furore; nicht zu vergessen auch die taiwanesischen Werke von Ang Lee wie etwa «Das Hochzeitsbankett». Edward Yang sorgt nun mit «Yi Yi» für einen weiteren Höhepunkt in dieser noch relativ jungen Tradition. In seinem knapp dreistündigen Werk geht er den grossen Dingen des Lebens nach – Liebe und Sehnsucht, Abschied und Tod, Schuld und Moral, Erwachsenwerden und Erwachsensein, enttäuschte Erwartungen und verpasste Gelegenheiten. All dies bettet Yang in die Geschichte der Durchschnittsfamilie Jian ein.

Harmonische Inszenierung

In seiner Themenwahl und in seiner gelassenen Tonart erinnert «Yi Yi» an Michael Winterbottoms Geniestreich «Wonderland». Beim Tempo und bei der Wahl seiner Bilder schlägt Yang jedoch eine konträre Richtung ein. Was bei Winterbottom wegen des Widerspruchs zwischen dem geschilderten Londoner Alltagsleben und den zwar mitunter mit Handkamera gedrehten, aber zugleich hochgradig elaborierten, künstlich kunstvollen Bildern so perfekt funktionierte, schafft Yang mittels einer Harmonie von Form und Inhalt. Seine Bilder, die ihre Wirkung oftmals durch eine ausgeklügelte Wahl der Perspektive – ein zentrales Thema des Films – erzielen, sind direkt und realistisch. Sie sind weniger Gemälde als vielmehr Kunstfotografie, nicht künstlich, aber nichtsdestoweniger kunstvoll. Neben einem guten Drehbuch, das auch durch seine angenehm zurückhaltend philosophischen Dialoge besticht, und seinem ausgeprägten formalen Taktgefühl verfügt Yang auch über eine wunderbare Besetzung. Nien-Jen Wu als ausgebrannter, stoischer Familienvater vermag in einem Blick ein ganzes Leben mit all den geplatzten Träumen zu rekapitulieren; die jugendlichen Laiendarsteller Kelly Lee und vor allem der umwerfend süsse achtjährige Jonathan Chang avancieren zu den Sympathieträgern des Film. Mag «Yi Yi» mit fast drei Stunden Spieldauer eventuell etwas lang geraten sein, baut der Film womöglich gegen Ende etwas ab und bekundet der Regisseur vielleicht etwas Mühe, zu einem Schluss zu kommen, Edward Yang ist mit «Yi Yi» ein Meisterwerk gelungen – ein ganz grosses Meisterwerk, ohne Zweifel. Ein Film, der die wirklich bedeutenden Fragen des Lebens auf unaufdringliche und unaufgeregte Weise aufsummiert.