von Sandro Danilo Spadini
Elliott (Maisy Stella) ist wahrlich ein Kind ihrer Zeit: Sie steht auf Frauen, hat eine nonbinäre schwarze Kumpelin, mosert gegen weisse Cis-Männer, redet wie ein besoffener Matrose
und kleidet sich wie eine Obdachlose – Gen Z halt. Oder zumindest das, was Hollywood darunter versteht und verstanden haben möchte. Ein Kind im wörtlichen Sinne ist Elliott freilich nicht mehr,
also sicher jetzt nicht mehr. Denn jetzt feiert sie ihren 18. Geburtstag und den kurz bevorstehenden Abflug von der elterlichen Cranberry-Farm in einem 300-Seelen-Nest an die Uni im
grossstädtisch pulsierenden Toronto; sie feiert, um es in ihren Worten zu sagen, die kribbelnde Aufregung, dass ihr Leben «endlich losgeht». Und sie tut das in adäquater Weise: mit einem
Schäferstündchen mit ihrer ewigen Traumfrau Chelsea (Alexandria Rivera) und einem «Magic Mushroom»-(Camping-)Trip mit den Freundinnen Ro (Kerrice Brooks) und Ruthie (Maddie Ziegler) auf ihrem
liebsten Fleckchen Wald am Ufer. Und ebenda geschieht dann etwas wahrhaft Magisches: Spätnachts erscheint Elliott am Lagerfeuer urplötzlich ihr 39-jähriges Ich (Aubrey Plaza) – «my old ass», wie
sie es nennen wird. «Ich halluziniere!», ruft sie freudig aus. Und das mag ja auch durchaus stimmen; es ändert aber nichts daran, dass diese ältere Version von ihr wirklich, tatsächlich,
leibhaftig nun hier sitzt und ihr gute Ratschläge gibt. Ihr all die Dinge sagt, die man in diesem Alter den Jüngeren halt so ans Herzen legt – weil sie einfach wahr sind: dass das Leben nie
mehr so einfach sein werde wie jetzt, dass man sein Glück schätzen solle, weil es nicht für immer sei, und dass die Zeit so verdammt schnell vergehe. Aber wie alle Jungen hat natürlich auch
Elliott keinerlei Gehör dafür. Wenigstens zunächst. Mit der Zeit indes wird sie erkennen, dass ihr altes Ich mit alldem recht haben könnte. Nur dass sie unbedingt die Finger von diesem
liebenswürdig-feinsinnigen Chad (Percy Hynes White) lassen soll – das will ihr partout nicht in den Dickkopf.
Publikumsschmeichler mit einem Schuss Suspense
Es ist verblüffend: Allzu viel kriegt Hollywood heutzutage nicht mehr gebacken. Aber wenn es um Zeitreisen geht, kommt praktisch immer etwas Erbauliches heraus. Und man muss da nicht mal mit weit
aufgerissenen Augen zu den überlebensgrossen Christopher-Nolan-Kisten «Interstellar» und «Tenet» rüberblicken – für die Untermauerung dieser These tun es auch kleinere Produktionen wie die
«Groundhog Day»-Reminiszenzen «Happy Death Day» (2017) und «Palm Springs» (2020), der «Back to the Future»-Nachfahre «Totally Killer» (2023) oder die «Lost Highway»-Variation «Caddo Lake» (2024).
Dass es Netflix just mit dem Horrorfilm «Time Cut» nicht so gut gemacht hat – geschenkt! Denn quasi als Kompensation präsentiert nun Amazon Prime das Teenagerdrama
«My Old Ass», ein nur 85 Minuten langes Juwel, das die kanadische Schauspielerin und Neoregisseurin
Megan Park inmitten einer traumhaften Kulisse liebe-, ja nachgerade hingebungsvoll ins Szene gesetzt hat. Was schnodderig beginnt und mit seinem naseweisen Woke-Hipster-Imperativ einen Teil
seiner älteren Klientel früh zu vergrämen droht, mausert sich binnen Kürze zum lupenreinen Publikumsschmeichler, der sich im zärtlich strahlenden Sonnenschein dieses letzten Sommers der Jugend
räkelt und abenteuerlustig in den späten Ausläufern der Zeit der Unschuld lümmelt. Park, die vor drei Jahren mit dem Schulmassaker-Drama «The Fallout» unter Kritikerbeifall ihr Regiedebüt gab,
schafft es dabei nicht nur, die gewitzte Grundidee ihres Drehbuchs witzig umzusetzen; sie versteht es auch, die knappe verfügbare Zeit sinnvoll zu nutzen und keine einzige Szene zu verschwenden.
Entsprechend hoch sind sowohl Gagdichte als auch Unterhaltungsniveau, das obendrein von einem Schuss Suspense profitiert: Was es mit diesem so harmlos wirkenden Chad Schlimmes auf sich hat und
die im Ominösen verharrende Zukunft, aus der die 39-jährige Elliott ihr jüngeres Ich anruft – das vermag einen durchaus auf die Folter zu spannen.
Zwischen Vergnüglichkeit und Vergänglichkeit
Die grosse Überraschung des Films ist aber, wie rührend es bisweilen wird, wie berührend die Gedanken sind, die nicht nur die beiden Elliotts in die atemberaubend schöne kanadische
Naturlandschaft hinausschicken, sondern auch Chad und Elliotts Mutter Kathy (Maria Dizzia). In diesen bittersüssen späten Phasen, in denen die grossen Fragen um Familie und Heimat, Identität und
Sexualität, Liebe und das Leben an sich aufgeworfen werden, in diesen dezent melancholischen Szenen zwischen Vergnüglichkeit und Vergänglichkeit haben denn auch die durchgehend erfrischend
authentischen Darsteller ihre Glanzmomente, allen voran die aus «Nashville» bekannte Maisy Stella, Aubrey Plaza («Ingrid Goes West») und der geradezu grandiose Percy Hynes White («The Gifted»),
aber auch die leider etwas zu kurz kommenden Maddie Ziegler («The Fallout») und Maria Dizzia («Martha Marcy May Marlene»). In einem dieser Glanzmomente meint Elliott zu einer Betrachtung Chads
zum Ende der Kindheit, das sei nun aber «deep as hell» gewesen. Und da kann man ihr nur zustimmen: Verdammt tiefgründig ist das und noch vieles mehr, was Megan Park da auf gänzlich unverkrampfte
Weise präsentiert. Am Ende wird denn auch nicht nur die forsche 18-jährige Elliott gelernt haben, dass sie noch nicht alles über das Leben weiss – dass sie dankbar sein soll für den Moment
und ihn schätzen soll, weil leider alles einmal enden wird. Ein bisschen schlauer sind dann auch ihr 39-jähriges Ich und mit ihm sogar wir, die wir nur jubelnd zustimmen können, als der finale
Ratschlag ertönt: Sei eine optimistische Idiotin – sei jung und dumm!