Es lebe die Revolution – und ihre Kinder!

Paul Thomas Andersons «One Battle After Another» ist ein vogelwild wuseliges, chaotisch mäandrierendes, unpoliert holterdiepolterndes Genresammelsurium – und ein verdammtes Meisterwerk. Leonardo DiCaprio ist einmal mehr grandios darin. Und Sean Penn liefert gar die beste Leistung seiner langen Karriere ab.

Warner Bros.

von Sandro Danilo Spadini

«Ihre Revolution ist vorbei. Sie haben verloren!», knallte einst der feiste Wirtschaftskapitän Jeffrey Lebowski dem definitiv nur namensverwandten Dude an die Kiffbirne. Bald 28 Jahre ist das her, aber laut und deutlich hallt das tumbe Triumphgeheul aus dem Coen-Brothers-Überfilm «The Big Lebowski» hier nach, in Paul Thomas Andersons neuem Streich «One Battle After Another». Schliesslich erinnert dessen Held gleich in doppelter Hinsicht an den Dude: Der ähnlich nachlässig gewandete Bob Ferguson (Leonardo DiCaprio) frönt nicht nur geradeso gern dem Konsum weicher Drogen, in dessen Zuge auch er nur ganz selten die besten Entscheidungen trifft und die geschicktesten Manöver vollführt; er ist überdies ein unverbesserlicher und unverdrossener Revoluzzer, der den Reichen und Mächtigen noch immer an den dicken Karren gefahren ist – dies freilich anders als der Dude typischerweise mit schwerem Geschütz, vorzugsweise explosivem. Seit 16 Jahren indes ist Schluss damit; seither ist sein Widerstand nur mehr ideologischer Natur und eher gegenläufig zu seinem Rauschmittelverschleiss. Die Sinne sind mittlerweile entsprechend getrübt respektive halt vernebelt, seine Paranoia hingegen ist unvermindert akut. Und das aus gutem Grund: Zwar lebt er seit dem Auffliegen der linksradikalen Widerstandsgruppe French 75 und dem Verschwinden seiner dort federführenden Gattin Perfidia (Teyana Taylor) mit seiner vifen Teenagertochter Willa (Chase Infiniti) abgeschieden und unter falschem Namen tief im Wald der «Sanctuary City» Baktan Cross und achtet manisch genau darauf, keine Spuren jedweder Art zu hinterlassen. Doch das schützt ihn nur bedingt vor dem rasenden Rachezorn des irren Colonels Steven Lockjaw (Sean Penn). Der nämlich ist zwar ein Rassist reinsten Wassers, der das von French 75 gestürmte Internierungslager an der mexikanischen Grenze damals mit Herzblut geleitet hat. Gleichwohl hat er eine perverse sexuelle und durchaus auch amouröse Besessenheit entwickelt mit der dunkelhäutigen Perfidia, die ihn gleich zweimal gedemütigt hat: zunächst beim Überfall und dann, als sie aus dem Zeugenschutzprogramm getürmt ist und ihn mit abgesägten Hosen zurückgelassen hat. Auch nach all den Jahren hat Lockjaw nicht vergessen, nicht verziehen. Vor allem aber will er nun der elitären Rassistenvereinigung Christmas Adventurers beitreten. Und deshalb muss er jetzt ums Verrecken wissen, ob aus seinen Schäferstündchen mit Perfidia ein Mischlingskind hervorgegangen ist. Also setzt er Himmel und Hölle in Bewegung, um Willa aufzuspüren und deren Vaterschaft zu klären. Weil er unvermindert ein Mann von Rang und mit Ressourcen ist, gelingt ihm das auch halbwegs mühelos. Gerade noch rechtzeitig vermögen Bob und Willa zu fliehen – das indes getrennt voneinander. Und so suchen nun gleich zwei Männer fieberhaft und fanatisch nach dieser jungen Frau, die nicht weiss, was da läuft: der Mann, der sie trotz gewisser Wunderlichkeiten patent grossgezogen hat, und ihr potenzieller Erzeuger, der nichts Gutes mit ihr im Sinn hat.  
 
Zeitgeistig und gleichzeitig zeitlos
 
Ach, Amerika, was ist nur aus dir geworden?, wehklagt man immer wieder beim Betrachten von «One Battle After Another», Paul Thomas Andersons zehntem Film, der lose auf dem in der Reagan-Ära angesiedelten Roman «Vineland» von Thomas Pynchon basiert. Denn mag das alles auch wahnwitzig wuselig sein, chaotisch mäandrieren zwischen den Genres und ein unpoliertes Holterdiepolter sein, das vor Verrücktheiten und Skurrilitäten nur so strotzt und protzt: Dass das überzeichnet wäre, wagt man mit Blick auf den gegenwärtigen Zustand der Vereinigten Staaten nicht mehr so einfach hinauszuposaunen – zu mainstreamig fühlen sich diese Christmas Adventurers an, diese Country-Club-Nazis und Lacoste-Faschos mit ihren Rassenhygienefantasien, zu vertraut ist der hier ausbuchstabierte Machtmissbrauch der Regierung, zu realistisch wirken die Bilder von der Jagd auf Migranten. Lediglich dieser kompromisslose revolutionäre Geist, der wirkt wie aus einer anderen, einer besseren Welt. Es ist also eine ungemein zeitgeistige Geschichte, die Anderson hier erzählt, ausgerechnet er, der sonst lieber in der Vergangenheit wirbelt, im Kalifornien der Siebziger, im London der Fünfziger oder auf den Ölfeldern zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es ist die Geschichte eines Landes in Trümmern, eines Volkes in Tränen – Tränen des Hasses, des Zorns, der Angst. Die Geschichte eines Landes nicht am Rande, sondern mitten in einem Nervenzusammenbruch. In Szene gesetzt hat der Regisseur von Wunderwerken wie «Boogie Nights», «There Will Be Blood» und «Licorice Pizza» das alles, diese schwer überschaubare und trotzdem erstaunlich gut verdaubare Menge an Ideen, Stimmungen und Themen, freilich gleichsam zeitlos: Mal wirkt das pulsierende Chaos hyperrealistisch heutig, in den ruhigeren Momenten kommt nicht nur wegen des Soundtracks dagegen ein Retro-Feeling auf, und dann wieder gemahnt der Film in seiner erfrischenden Schamlosigkeit an die goldenen Neunziger, das Jahrzehnt, in dem Anderson die grosse Bühne betreten und Hollywood eine aus heutiger Sicht fast schon grotesk anmutende Menge an Kult- und Sofortklassikern produziert hat. Ein ebensolcher ist Anderson nun mit diesem über zweieinhalbstündigen, mit Witz und Biss angereicherten, mit Geist und Lust gesegneten Genresammelsurium geglückt. Ja, es ist das wohl sein bester Film bis dato. Und das will bei diesem Ausnahmeregisseur etwas heissen und gibt hoffentlich einen Eindruck davon, was für ein verdammtes Meisterwerk «One Battle After Another» ist.
 
Ein Herz, das wie verrückt schlägt
 
Wie der herrlich luftige Vorgänger «Licorice Pizza» ist das im Übrigen trotz all dem Gewicht einer der zugänglicheren Anderson-Filme. Dies zum einen wegen des Superstarstatus von Leonardo DiCaprio, der sich abermals von seiner Schokoladenseite präsentiert (hat er denn überhaupt eine andere?) und für einmal seine komödiantischen Stärken freudig ausspielt: Wie er von einem Fettnäpfchen ins andere trampelt, um dann über das nächste zu stolpern – das hat in der Tat fast schon Dude-Qualitäten und erdet das Geschehen gleichzeitig. Zum anderen aber hat der Film, der die Liberalen zwar aufs Korn, die Rechten aber ins Kreuzfeuer nimmt, diesen «Comic Relief» gar nicht erst nötig. Denn auch in den – nicht mal so wenigen – Szenen, in denen DiCaprio absent ist, erdrückt die politische Botschaft nie je die Figuren, sprüht in rauem Umgangston der Wortwitz, fackelt gerade auch der sich wahnsinnigerweise zu einer Karrierebestleistung aufschwingende zweifache Oscar-Preisträger Sean Penn ein schauspielerisches Feuerwerk ab, platzen die Arrangements vor detailversessener Liebe zur inszenatorischen Vollkommenheit, packt und fesselt und absorbiert einen diese dramatische und dynamische und delirierende Geschichte – eine Geschichte, die sich auch mal einen melancholischen Moment erlaubt, bisweilen nachgerade hoffnungslos erscheint, wir ihr Held mitunter gefährlich irrlichtert, wie ihr Land dann und wann aus den Fugen zu geraten droht, dabei aber nie ins Schwarzmalerische kippt, sondern immer aufgedreht bleibt, nie in einen Anklageton verfällt, sondern immer neckisch bleibt, nie im Wehleidigen versinkt, sondern immer kämpferisch bleibt. Vor allem aber ist jederzeit spürbar, dass unter all der Kunst und all der Ambition, all dem Furor und all dem Tumult, all der Präzision und all der Reflexion ein Herz ist. Und dieses Herz, es schlägt wie verrückt. Und es schlägt bei allem, was hier politisch und gesellschaftlich auf dem Spiel steht, zuvörderst für das, was «One Battle After Another» im Kern ist: eine Vater-Tochter-Geschichte. Da ist ein Vater, und da ist eine Tochter. Und das ist alles, was in der Welt zählt – ganz egal, wie abgefuckt diese Welt gerade auch sein mag.